Nagelsmann im Kreuzfeuer der Kritik: Scheitert der Bundestrainer an sich selbst?
Von Oliver Helbig

Es ist ein heilloses Auf und Ab um die Personalie Julian Nagelsmann in seiner Rolle als Bundestrainer. Die große Euphorie, die noch während der Heim-EM im vergangenen Jahr rund um die deutsche Nationalmannschaft aufkam, scheint seit Wochen und Monaten bereits wieder wie weggeblasen, und die Kritik an Nagelsmann mehrt sich mit gefühlt jeder weiteren Länderspielpause.
Die Kritik am Bundestrainer ist vielschichtig und womöglich hat der 38-Jährige selbst einen großen Anteil daran, dass es so ist, wie es ist.
Gekommen als Hoffnungsträger einer ganzen Fußballnation, gefüllt mit innovativen Ideen und modernen Herangehensweisen, die attraktiven Offensivfußball versprechen – so die Theorie. Doch die Wahrheit ist, dass die deutsche Nationalmannschaft wenige Monate vor dem Start der Weltmeisterschaft 2026 erschreckend unfertig und anfällig wirkt und sogar noch um das Ticket für die Teilnahme bangen muss.
In einer vom ersten Blick her eher unproblematisch erscheinenden Qualifikationsgruppe der DFB-Auswahl muss man bis zum Schluss bangen - und damit glimmt ein weiterer Punkt, der die Kritik am Bundestrainer so laut werden lässt. In einer Welt, in der die vermeintlich Kleinen im Fußball aussterben und jede Fußballnation näher zueinander rutscht, sind die Ergebnisse in meinen Augen jedoch erstmal zweitrangig für die Kritik an Nagelsmann. Das wäre zu oberflächlich. Der Hase liegt woanders im Pfeffer und Nagelsmann macht sich selbst verwundbar.
Nagelsmann stellt das Segel und der Gegenwind schlägt ein
Warum der Bundestrainer so im Kreuzfeuer der Kritik steht, ist vielschichtig und wohl in weiten Teilen gewissermaßen auch hausgemacht. Julian Nagelsmann stellt sich gefühlt - gewollt oder ungewollt - recht häufig selbst genau in eine Position, in der er die volle Breitseite des Gegenwinds abbekommt. Manchmal möchte man fast meinen, er ziehe es förmlich an, dass über ihn gesprochen oder scharf diskutiert wird. Und da sind wir schon beim ersten Kritikpunkt.
Zu viel Rampenlicht?
Nicht selten hat man den Eindruck, es gehe beim Bundestrainer häufig zuerst um den Bundestrainer. Vielleicht ist das nur eine äußerst subjektive Wahrnehmung, aber ich habe manchmal das Gefühl, Nagelsmann genießt es, dass sich Themen manchmal speziell um ihn und seine Entscheidungen drehen. Als ob er es genieße, zu polarisieren und dann auf Nachfrage unnahbar oder genervt zu antworten. Und selbst wenn er genau das nicht wolle, müsste Nagelsmann eigentlich klar sein, dass er durch seine Art genau zu einer solchen Berichterstattung hinführt. Sicherlich bringt es die Aufgabe mit immer im Ramenlicht zu stehen - wie es aber anders auch geht beweist man an Nagelsmanns alter Wirkungsstätte.
Vergleicht man das etwa mit Vincent Kompany beim FC Bayern München, fällt auf, dass es beim Belgier vergleichsweise selten um ihn selbst geht oder er sich zumindest nicht bewusst selbst ins Rampenlicht stellt. Ein Vincent Kompany, der lässig auf dem Longboard um die Ecke aufs Trainingsgelände an der Säbener Straße surft und anschließend versucht, krampfhaft lockere oder lustige Sprüche zu bringen? – Fehlanzeige. Beim Bayern-Coach wirkt es alles in allem etwas runder als bei Nagelsmann, wenngleich die Aufgabe nicht weniger schwierig ist und der Belgier deutlich häufiger im Fokus der Medien steht. Hilft ihm da womöglich auch die weitaus größere Erfahrung als Spieler?
Bei Kompany hat man, im Gegensatz zu Nagelsmann, nie das Gefühl, dass er auf Biegen und Brechen präsent sein will, stattdessen analysiert er immer ruhig und klar und stellt dabei stets seine Spieler in den Fokus der Unterhaltung – wenn möglich. Große Sprüche oder öffentliche Kritik? Ebenfalls Fehlanzeige. Ein Aspekt, der auch schon Nagelsmanns früheren Co-Trainer beim DFB-Team, Sandro Wagner, in dieser Saison gewaltig um die Ohren geflogen ist und in dem Wagner seinem vorherigen Cheftrainer ähnelt. Auch bei Wagner muss nun etwas Demut einkehren und vielleicht gilt das auch für den Bundestrainer.
Nagelsmann wurde bereits in jungen Jahren Bundesligatrainer, ohne zuvor Erfahrungen als Profifußballer gesammelt zu haben. Damit hatte er es von Anfang an schwerer als so mancher Ex-Profi, der die Seite wechselt. Aus dem Jugendfußball in die schillernde Welt der Fußballstars in der er Spieler in seinem Alter oder älter an die kurze Leine nehmen und von seiner Arbeit überzeugen musste. Machen wir uns Nichts vor: Dazu bedarf es sicherlich auch einem teils vermeintlich gespieltem Selbstvertrauen oder etwas aufgeblasener Stärke.
Vielleicht war es dieser ständige Kampf um Anerkennung in einem gnadenlosen Haifischbecken, in dem man immer etwas tun muss, um gesehen und respektiert zu werden, der Nagelsmann diesen gewissen Touch verlieh. Aber hat der Bundestrainer es überhaupt noch nötig, sich auf diese Art zu beweisen, wenn dem so ist? Ich finde: Nein.
Was dem Bundestrainer für meinen Geschmack dadurch letztlich etwas abgeht, ist Authentizität. Vieles wirkt auf mich oft nicht echt und ehrlich, sondern aufgesetzt, und das lässt mich mit Nagelsmann so fremdeln - obwohl ich ihn für einen herausragenden Trainer halte.
Professor Nagelsmann und das DFB-Labor der Besonderheiten
Ein weiterer Aspekt der Kritik ist das permanente Experimentieren von Julian Nagelsmann. Man hat irgendwie nicht das Gefühl, dass der große Kern der Nationalmannschaft für das WM-Turnier im kommenden Sommer felsenfest steht, und wenn man überlegt, dass Nagelsmann nun schon seit September 2023 an diesem Projekt in der Hauptverantwortung mitwirkt, wirkt die DFB-Auswahl als Gesamtgefüge bedenklich instabil und viel zu oft voller Fragezeichen.
Liegt das nun an vermeintlich nicht ganz fähigem Spielermaterial oder einer falsch zusammengestellten Mannschaft und geprägt von Verletzungen oder etwa daran, dass der Bundestrainer aus dem großen Experimentieren nicht rauskommt?
Mal werden Neulinge eingeladen und dürfen nach einem kurzen Gastspiel nicht wiederkehren, mal reisen sie als Hoffnungsträger an und spielen dann überhaupt nicht. Dann gibt es noch gestrichene, gestandene Spieler, die plötzlich wieder geholt und wichtig gemacht werden oder die nach einer Rückholaktion vor dem gesamten Land bloßgestellt werden. Andere Spieler, die große Zukunftshoffnungen auf ihren Schultern tragen, werden mit dürftigen Begründungen plötzlich weggelassen. Blenden wir den Versuch, Kai Havertz als Linksverteidiger einzusetzen, einfach mal aus und lassen dieses düstere Kapitel weit zurück in der Vergangenheit. In Sachen Kader fehlt irgendwie die ganz große Konstanz und eine für alle erkennbare Linie.
Es ist ein ständiges Hin und Her in Sachen Nominierung, taktischer Herangehensweise oder Formation, das auch dazu führt, dass sich neben ganz wenigen Ausnahmen kaum einer wirklich mit einem Gefühl von Rückhalt und Vertrauen entfalten kann oder darf. Eingespielte Abläufe und Souveränität? Ich weiß nicht. Es wirkt von außen, als müssten sich 90 Prozent der deutschen Nationalspieler Gedanken machen, nach Fehlern angezählt oder gleich rasiert zu werden und das Leistungsprinzip wird an wechselnden Prinzipien mal eingehalten und mal nicht – das kann keine gesunde Basis für den ganz großen Erfolg sein.
Ist Nagelsmann ein Bessermacher?
Zur Wahrheit gehört außerdem irgendwie auch, dass man nicht das Gefühl hat, dass im Nationalteam irgendein Spieler wesentlich besser geworden ist unter dem aktuellen Bundestrainer, und auch nicht, dass sich ein gehypter Shootingstar vollends gefestigt hat, wie das einst bei Joshua Kimmich in seinen Anfängen im Nationalteam war. Ebenfalls muss erwähnt sein, dass der deutsche Kader trotz der Ausfälle von Jamal Musiala, Kai Havertz oder Marc-Andre ter Stegen noch immer über ausreichend Klasse verfügt, um zur europäischen Elite zu gehören und sattelfest zu wirken – doch das Gegenteil ist der Fall.
Ich will mich nicht so weit aus dem Fenster lehnen und behaupten, dass Julian Nagelsmann bewusst den großen Hype – gerade in seinem negativen Ausmaß – auf sich ziehen möchte, aber er tut auch nicht wirklich etwas dafür, dies zu vermeiden.
Es ist das teils etwas genervt und leicht arrogant wirkende Auftreten des Bundestrainers, gepaart mit fragwürdigen Entscheidungen rund um den Kader, angefangen mit Nominierungen bis hin zu taktischen Wechseln und neuen Ideen, die die Angriffsfläche bei Nagelsmann so breit werden lässt und ihn ins Zentrum der Berichterstattung und öffentlichen Wahrnehmung stellt. Ob er das nun will oder nicht. Natürlich liegt das auch an der Schwere und Größe der Aufgabe aber sollte man nicht vor allem deshalb für so wenig Angriffsfläche sorgen wie nur irgendwie möglich?
Als Fan weiß man nicht, woran die deutsche Nationalmannschaft ist
Die Fußballnation ist in puncto Nationalelf wohl gespalten wie lange nicht mehr, wenn es darum geht, wie groß die Rolle der DFB-Auswahl bei einem großen Turnier sein kann – oder ob man sich letztlich überhaupt dafür qualifiziert.
Die Euphorie, die sich im Laufe der Heim-EM entwickelte, war ein gern genommenes und genossenes Zwischenhoch, doch nach diesem sportlichen Highlight des Vorjahres wirkt der deutsche Fußball in Sachen Nationalmannschaft so instabil und launisch wie vor dem letztjährigen Turnier - und diesen Schuh muss sich Nagelsmann anziehen oder anziehen lassen. Bei der kommenden WM kann man zudem nicht auf die breite Unterstützung des Heim-Publikums zählen.
Vielleicht wäre es nun endlich an der Zeit, weniger im Vordergrund mit frechen oder genervten Sprüchen zu glänzen, sondern sich im stillen Kämmerlein Gedanken zu machen, wie man mit Blick auf den Sommer die schwächelnde DFB-Karosserie WM-tauglich und durch den TÜV bekommt. Ansonsten wird man wohl schon bald wieder den Fahrer wechseln müssen.
Es braucht auch auf dem Platz einen roten Faden
Julian Nagelsmann muss sich vor dem Land nicht zum Entertainer erheben, sondern einfach nur als das beweisen, was er ist: Ein überaus hochtalentierter Trainer. Doch auch er darf in seiner Entwicklung nicht stehen bleiben. Dass er auch anders kann, hat unter anderem die Pressekonferenz am Sonntag vor dem Duell mit der Slowakei gezeigt - klar, besonnen, mit etwas lockerem Flair und auf den Punkt.
Hoffen wir, dass seine Mannschaft am Montagabend ähnliche Attribute auf den Platz bringt und das WM-Ticket löst.
Dennoch muss jetzt allmählich auch auf dem Rasen ein roter Faden erkennbar werden, der zeigt, in welche Richtung sich die deutsche Auswahl bewegen will. Wer bildet den Kern, wer sind die Leader, wie sieht unsere erste Elf aus und wofür will der deutsche Fußball stehen?
Noch wirkt die WM in weiter Ferne, doch wenn sich die Mannschaft das nächste Mal trifft, ist bereits März und der Sand rieselt unaufhaltsam durch die Uhr. Schluss mit Experimenten, Schluss mit dem Rumgeiere. Die DFB-Auswahl braucht mit Blick auf die Endrunde endlich Struktur, Halt und Führung. Und einen fest im Sattel sitzenden Bundestrainer.
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