Die scheinheilige Nagelsmann-Kritik - Oder: Warum früher nicht alles besser war
Von Simon Zimmermann

"Früher war alles besser", heißt es oft von der älteren Generation. Mit fortschreitendem Lebensalter ist es sicher den meisten von uns schon so ergangen, dass man frühere Zeiten im Rückblick rosiger betrachtet, als sie es vielleicht tatsächlich waren. Besonders häufig ist dieser Gedankengang nach Trennungen, wenn der Ex-Partner in der Retrospektive romantisiert wird.
Die deutsche Nationalmannschaft ist ja so etwas wie das geliebte Fußball-Kind der Republik. Oder war es zumindest früher mal (womit wir beim Thema wären). Mit Blick auf das DFB-Team ereignet sich zu jeder Kader-Nominierung ein immer gleiches Phänomen: Jeder Fan wird gewissermaßen zum Bundestrainer - kommentiert und diskutiert die Auswahl des tatsächlichen Coaches.
So geschehen natürlich auch zur jüngsten Nominierung Julian Nagelsmanns zum Quali-Finale gegen Luxemburg (14.11.) und der Slowakei (17.11.). Trotz Katastrophen-Start mit der Pleite in der Slowakei hat das DFB-Team die große Chance, mit zwei Siegen zum Abschluss als Gruppenerster direkt für die WM-Endrunde 2026 qualifiziert zu sein.
Deutschland diskutiert: El-Mala-Nominierung zu früh?
Die sportliche Ausgangslage scheint aktuell in Deutschland und unter den gut 80 Millionen Bundestrainern aber gar nicht im Fokus zu stehen. Vielmehr ist es die Spielerauswahl von Nagelsmann. VfB-Star Angelo Stiller fehlt im zentralen Mittelfeld. Leroy Sané ist zurück. Und mit Said El Mala sorgte der Bundestrainer für einen Paukenschlag.
Der 19-jährige Shootingstar hat keine 400 Bundesliga-Minuten auf dem Buckel. Erst 385, um genau zu sein. Vier Tore und zwei Vorlagen sind ihm in dieser kurzen Zeit schon gelungen. Vor allem aber verkörpert El Mala etwas, das in Fußballdeutschland heiß gesuchte Mangelware ist: Bolzplatzmentalität und Stärken im Eins-gegen-eins.
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Und genau deshalb hat Nagelsmann den 19-jährigen Emporkömmling auch eingeladen. Auch wenn er dabei gewissermaßen gegen eigene Überzeugungen gehandelt hat, wie er am Montag auf einer Pressekonferenz zugab. Einen Hype von Shootingstars wolle er nämlich eigentlich gar nicht unterstützen. Doch weil es auf den Außenstürmer-Positionen so wenig Auswahl gibt, kam Nagelsmann nicht um El Mala herum. Zumal er den Effzeh-Jungstar selbst live erleben möchte, um besser einschätzen zu können, ob er eine realistische WM-Chance haben kann.
Eine Nominierung mit Weitblick, könnten Nagelsmann-Befürworter anmerken. Der Tenor in der Republik ist dieser Tage aber häufig ein anderer. Dort heißt es oft nicht "früher war alles besser", sondern "früher war es viel schwerer, in die Nationalmannschaft zu kommen". Oder "früher hat man viel länger gut spielen müssen, um ein Thema zu sein".
Aussagen, die eigentlich auch nur ein Synonym für "früher war alles besser" sind. Und gewissermaßen am Thema vorbeigehen. Denn - Überraschung! - früher war eben nicht alles besser. Weder im eigentlichen Leben, noch im Fußball. Früher war vieles anders, könnte man treffender sagen. Doch auch in früheren Zeiten hat sich der Zeitgeist immer wieder verändert.
Die Mär von "früher war es schwieriger ins DFB-Team zu kommen"
Und mögen die Aussagen stimmen, dass es in einigen Zeiten deutlich mehr Anlaufzeit gebraucht hatte, um ins DFB-Team zu kommen, so gilt das längst nicht für die letzten Dekaden. Zum einen, weil der Strom an potenziellen deutschen Nationalspielern nicht erst seit letzter Woche deutlich langsamer fließt.
Schon Ende der 1990er Jahre gab es große Probleme mit der fehlenden Klasse im deutschen Nachwuchs. Oder haben die älteren Generationen vergessen, wer 1998 oder beim sensationellen Einzug ins WM-Finale 2002 im deutschen Aufgebot stand? Welche Namen 2000 und 2004 bei den Europameisterschaften für das jeweils blamable Vorrunden-Aus sorgten?
Oliver Neuville, Marco Bode, Didi Hamann und Carsten Ramelow standen etwa gegen Brasilien 2002 in der Final-Startelf. Sicher auch zu damaligen Zeiten keine Spieler von gehobenem internationalem Niveau. Zwei Jahre später schafften es Spieler wie Fabian Ernst und Thomas Brdaric in den EM-Kader.
Nagelsmanns Vorgänger mussten über die letzten 25-30 Jahre hinweg immer wieder auf Emporkömmlinge setzen. Ein Negativ-Beispiel: Zoltan Sebescen hatte im Februar 2000 eine Handvoll guter Bundesliga-Spiele gemacht, ehe er als Rechtsverteidiger in der Startelf gegen die Niederlande (1:2) sein DFB-Debüt gab (es sollte sein einziges Länderspiel bleiben). Ein Positiv-Beispiel: Lukas Podolski hatte auch noch nicht viel Bundesliga-Erfahrung, als er mit 19 Jahren und zwei Tagen sein erstes A-Länderspiel absolvierte.
Mehr Chancen als Risiko
Mit Blick auf die Entwicklung des Fußballs wird es fast schon zwangsläufig auch immer richtiger, Talente früh auf die höchste Nationalmannschafts-Ebene zu bringen. Denn Spieler schaffen immer jünger den Durchbruch.
In Spanien ist das bereits ein "natürlicher Vorgang". Ein Lamine Yamal war schon mit 17 Schlüsselspieler bei La Roja. Nun ist El Mala natürlich noch kein Yamal. Vielmehr kann der Barça-Star eine Blaupause für ein Credo sein, das man ebenfalls häufig hört: "Es gibt keine jungen und alten Spieler - nur gute und schlechte."
Eine deutlich gehaltvollere Weisheit als "früher war alles besser". Nur sollte sie von den 80 Millionen Bundestrainern auch beherzigt werden. Die Chancen überbieten das Risiko nicht nur bei El Mala um ein Vielfaches!
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