"Irgendwie irgendwo rumgelaufen!"

Jubeln konnten gestern nur die Spanier
Jubeln konnten gestern nur die Spanier / CRISTINA QUICLER/Getty Images
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Tja, so kann's laufen. Wenn man nicht mit der richtigen Einstellung in ein Spiel geht. Das ist per se schon seltsam genug, denn es ging ja gegen einen prestigeträchtigen Gegner. War es Corona-Angst? Genug Abstand wurde ja gehalten. War es Lustlosigkeit? Ein Unentschieden in einem Wettbewerb, der keinen interessiert, hätte ja zum ersten Platz gereicht. Eigentlich ein Witz nach den Vorstellungen über die gesamte Nations-League-Saison hinweg.

Spanier wollten sich rehabilitieren - und das ist ihnen gelungen

Die Spanier haben es vorgemacht. Für sie war das Spiel eine willkommene Gelegenheit, den Frust der letzten Monate (beide Flaggschiffe auf Vereinsebene in der Champions League jämmerlich ausgeschieden) endlich mal in positive, aggressive Energie umzuwandeln, und der Welt zu zeigen: Spanien war eine große Fußballnation, Spanien ist eine große Fußballnation und Spanien wird eine große Fußballnation bleiben. Für diesen Anspruch reichen in der bei aller Komplexität auch immer simplen Fußball-Welt Resultate wie das gestrige. Spanien - Deutschland 6:0. Oder wie die Spanier sagen: Espana seis, Alemania cero. Das sind Resultate, die wie Erdbeben Schockwellen durch diesen Mikrokosmos (und darüber hinaus) senden und der Weltgesellschaft sagen: wir sind noch da.

Die Bayern, von denen ja ein paar (fünf an der Zahl) auf dem Platz standen, hatten diese Ambition gestern Abend offensichtlich nicht. Denn sie sind ja gerade da angekommen, wo jeder hinwill. Haben in der vergangenen Champions League-Edition den großen FC Barcelona 8:2 gedemütigt und die Königsklasse am Ende auch noch gewonnen. Und das auch völlig verdient.

Mehr geht nicht. Und wenn du das immer noch im Hinterkopf hast, dich etwas zu sehr darauf ausruhst, und dann auf einen motivierten Gegner triffst, der genau dies revidieren will, dann kommt mitunter so was wie gestern bei raus. 

Nicht zufällig haben die Spanier mit dem gestrigen 6:0 von Sevilla genau die Tordifferenz des Champions-League-Viertelfinales erreicht. Sie wollten eine wettbewerbsüberschreitende, allgemeine Revanche gegen den deutschen Fußball - und sie haben sie bekommen. 

Wer jetzt daraus die richtigen Schlüsse für die Euro 2020 im nächsten Jahr zieht, so sie denn statffindet, hat viel gewonnen. Mehr als es ein 0:6 im November des Vorjahres des Großturniers, in einem Wettbewerb, den hierzulande keiner so recht ernst nimmt, auf den ersten Blick suggerieren mag. 

Aussortiertes Trio als Heilsbringer?

Ob einer dieser Schlüsse der sein könnte, über die "Begnadigung" der ausrangierten Drei nachzudenken, sei mal dahin gestellt. Ich denke, solange Joachim Löw Bundestrainer ist, wird sich in dieser Triple-Causa nichts ändern. Was nicht heißt, dass ich unbedingt dafür plädiere, das Trio zurückzuholen. 

Die die gestern auf dem Platz standen, haben allesamt auch schon gezeigt, in der Lage zu sein, Leistungen abzuliefern, nach denen kein Mensch nach Hummels, Boateng oder Müller geschrien hat. Zumal bis zu Europameisterschaft auch noch allerhand passieren kann. Die nun quasi zum Retter der Nation hochstilisierten könnten sich verletzen oder außer Form geraten. Und dann?

Was jetzt geschehen muss, ist eine sachliche, emotionsbefreite Analyse der gestrigen Leistung. Und zwar von allen Beteiligten. Auch von den Medien. Heißt aber auch im Umkehrschluss: dass man es nicht zu hoch hängen sollte. Ja, ein 0:6, egal gegen welchen Gegner, ist heftig, und gab es in einem vergleichbaren Rahmen seit 1931 nicht mehr. Aber vielleicht war es auch der Schuss vor den Bug zur rechten Zeit. 

Die Statements der Beteiligten nach dem Spiel, von Toni Kroos und Manuel Neuer über Oliver Bierhoff bis hin zu Joachim Löw haben mir jedenfalls den Eindruck vermittelt, dass die richtigen Schlüsse gezogen werden könnten. Ergebnisoffen. Aber strukturell nicht von der eingezeichneten Linie entfernt.

Was sollte ein Trainerwechsel zum jetzigen Zeitpunkt auch noch bringen? Angenommen, nächste Woche würde ein neuer präsentiert? Ja, was soll er denn machen? Bis März gibt es eh keine Länderspiele. Und dann im Frühjahr in drei Testspielen alle neue Ideen in die Mannschaft implementieren zu wollen, erscheint mir nicht minder gottvertraulich zu handeln als es jetzt mit dem seit zwölf Jahren am Ruder befindlichen Fahrensmann Löw durchzuziehen, der sicherlich auch noch mal in sich gehen und seine Personalentscheidungen seit Herbst 2018 (bzw. Frühjahr 2019) überdenken wird. Aber auch er kann jetzt eigentlich erstmal nichts anderes tun, als die Szene zu beobachten und bis März darauf zu warten, eine neue Bewährungsprobe zu bekommen.

Niederlagen wie die gestrige hat es immer wieder gegeben

Spiele wie das gestrige, in denen die Spieler, wie ihr Trainer später analysierte, einfach “irgendwie irgendwo rumgelaufen” seien, was am Ende dann “irgendwie tödlich” gewesen sei, gibt es nun mal. Wir selbst haben es vor bald sechseinhalb Jahren selbst erlebt. Von der anderen Seite aus. Und wir konnten es damals schon nicht erklären. Und hohe Niederlagen mit fünf Gegentoren habe ich ebenfalls in den letzten zwanzig Jahren schon einige erlebt.

Ob zuhause gegen England (1:5) im September 2001, oder auswärts in Rumänien (1:5) im April 2004 oder Italien (1:4) im März 2006. Jedes Mal wurde dann das Gespenst eines völlig verkorksten Endturniers (EM oder WM) an die Wand gemalt. Mit Ausnahme von 2004 bestätigten sich diese Befürchtungen hinterher allerdings nicht. 2002 wurde - zugegebenermaßen nicht mit dem schönsten aller Fußball-Stile - das WM-Finale erreicht. 2006 ging sogar als "Sommermärchen" in die deutsche Fußball-Geschichte ein.

Und auch andersrum wird ein Schuh draus. Wer war nach dem Confed-Cup-Erfolg 2017, mit einer deutschen B-Auswahl, nicht felsenfest davon überzeugt, dass wir ein Jahr später in Russland, mit den Bayern- und Dortmund-Spielern on top, eine richtig gute WM spielen würden?

Nein - ohne das gestrige Geschehen im Estadio de la Cartuja zu Sevilla kleinreden zu wollen: definitive Rückschlüsse auf die paneuropäische Kontinentalmeisterschaft im kommenden Jahr sind in meinen Augen nicht zulässig. Ich erwarte sogar eine gewisse Trotzreaktion der Spieler, denen die gestrige Demütigung auf jeden Fall noch einige Monate lang in den Kleidern stecken dürfte. Zumindest bis zum nächsten Länderspiel. Irgendwo, irgendwie und irgendwann im Frühjahr kommenden Jahres.