Geschichten der WM: Ghizlane Chebbak, Rosella Ayane und der Aufstieg des marokkanischen Frauenfußballs

Ghizlane Chebbak: Marokkos Kapitänin
Ghizlane Chebbak: Marokkos Kapitänin / -/GettyImages
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Marokko ist der erste WM-Gegner des deutschen Teams in der Gruppe H. Die Atlas-Löwinnen sind das erste Mal bei einer WM dabei. Das ist kein Zufall, sondern das Resultat einer steilen Entwicklung der letzten Jahre. Zur Qualifikation trugen auch Ghizlane Chebbak und Rosella Ayane bei, zwei der besten Spielerinnen des Teams - bei denen ihr Vater jeweils eine entscheidende Rolle spielte.

Ghizlane Chebbak: Gesicht des marokkanischen Frauenfußballs - trotz Misserfolg

Fragt man Fußballerinnen, wie sie zu dem Sport gekommen sind, lautet die Antwort in den allermeisten Fällen: Entweder durch den Vater oder durch den Bruder. So war es auch bei Ghizlane Chebbak, Marokkos Rekordtorschützin und Kapitänin. Ihr Vater spielte auch Fußball, und das nicht ganz schlecht: Larbi Chebbak bestritt in den 70er Jahren zwanzig Spiele für das marokkanische Männer-Nationalteam.

Etwas mehr als dreißig Jahre später steht seine Tochter zum ersten Mal für das Nationalteam auf dem Rasen. Es ist 2007, und Ghizlane Chebbak ist eine junge Nachwuchshoffnung. In den nächsten Jahren wird sie zur Rekordtorschützin und zum Gesicht des marokkanischen Nationalteams der Frauen aufsteigen.

Aber auch ihre Tore bringen keinen Erfolg: Zwischen 2007 und 2020 kann sich Marokko für kein großes Turnier qualifizieren, weder WM noch Afrika-Cup. Die Liga ist wenig professionell, die Entwicklung stagniert.

2020: Der Wendepunkt und Beginn des rasanten Aufstiegs

2020 beschließt der Verband dann, etwas zu ändern. Anders als viele andere Verbände - etwa der argentinische - glaubt die FRMF nicht, dass der Misserfolg bloß an den schlechten Leistungen der Spielerinnen liegt oder unveränderbar ist. Der nötige Anstoß zu diesem Sinneswandel kommt aber nicht aus dem Nichts, sondern von höchster Stelle: Der König höchstpersönlich setzt sich dafür ein, den Frauenfußball zu fordern. Der Verband setzt einige Reformen durch - lang überfällig, aber dennoch ungewöhnlich, gerade im Vergleich zu der Lage in Marokkos Nachbarländern.

Die Amerikanerin Kelly Lindsey wird mit der Koordination der Frauenteams betreut, und mit Reynald Pedros ein erfahrener Trainer geholt, der bereits mit Lyon Titel gewonnen hat. Aber die Veränderungen sind auch strukturell: Die beiden ersten Ligen werden professionalisiert, und der Verband übernimmt 70% des Gehaltes jeder Spielerin. Das Mindestgehalt ist nicht fürstlich, reicht aber zum Leben. Eine professionelle zweite Liga, das gibt es selbst in Ländern wie England oder den USA noch nicht.

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Marokkos Trainer Reynold Pedros / WILLIAM WEST/GettyImages

Vielleicht am wichtigsten war aber, dass Marokko den Zuschlag bekam, um den Afrika Cup 2022 auszurichten. Damit konnte das Team zum ersten Mal seit 2000 an dem Turnier teilnehmen - und überraschte alle. Marokko spielte nicht nur mit, sondern spielte gut. Im Halbfinale traten sie gegen das dominante Team des Kontinents, Nigeria an. Nigeria hielt trotz zweier Platzverweise gut mit, die Spannung stieg immer weiter: Elfmeterschießen hieß es nach 120 Minuten. Ein Treffer fehlte den Atlas-Löwinnen noch zum Einzug ins Finale, da trat Rosella Ayane an.

Rosella Ayane - im marokkanischen Trikot ihrem Vater verbunden

Auch bei Ayane sorgte ihr Vater dafür, dass sie nun mit Marokko bei der WM spielt: Ayane wuchs als Tochter einer schottischen Mutter und eines marokkanischen Vaters in England auf. Nachdem sie in der Akademie von Chelsea ausgebildet wurde, landete die 27-Jährige nach mehreren Stationen schließlich bei Tottenham Hotspur. Als Jugendliche spielte Ayane für die Nationalteams von England, 2021 bekam sie aber einen Anruf aus Marokko.

Warum sie sich dafür entschied, für das Heimatland ihres Vaters anzutreten, obwohl sie kein Arabisch oder Französisch spricht und auch der schottische Verband interessiert war, erzählte Ayane erst neulich in einem Interview mit Versus: Ihr Vater starb, als sie dreizehn Jahre alt war. "Es gibt einfach dieses unbeschreibliche Gefühl, das ich bekomme, wenn ich dieses Shirt trage", sagte Ayane. "Und es ist dieses Gefühl, das mich mit meinem Vater verbindet. Im Grunde genommen repräsentiere ich ihn jedes Mal, wenn ich es anziehe."

Marokko hatte schon vorher versucht, Ayane für das Nationalteam zu gewinnen, aber vor 2021 fühlte sie sich noch nicht bereit. Ein Jahr später spielte sie im Halbfinale des Afrika Cups, vor der gesamten Familie ihres Vater und vor 45 562 Zuschauern, Rekord. Und verwandelte den entscheidenden Elfmeter.

Kurios dabei: Zu viel Druck verspürte die 27-Jährige wohl nicht, als sie zum Elfmeterpunkt antrat. Denn Ayane hatte nicht realisiert, dass sie gerade die Möglichkeit hatte, ihr Team ins Finale zu schießen. Ihre Reaktion auf den daraufhin ausbrechenden Jubel ist Gold wert:

2023: Marokko als erstes arabisches Land bei der WM - schreiben sie weiter Geschichte?

Das Endspiel gegen Südafrika ging verloren, der Effekt des Turniers aber nicht. Auch der marokkanische König beglückwünschte das Team zu seinen Erfolgen. Ghizlane Chebbak, die Rekordtorschützin, wurde Spielerin des Turniers und nochmal bekannter. Den größten Erfolg seiner Tochter bekam Larbi Chebbak nicht mehr mit, er verstarb 2020. Vor dem Spiel gegen Deutschland dankt Chebbak ihrem Vater für seine Unterstützung und sagt, er wäre auf ihre WM-Teilnahme mit Sicherheit stolz.

Dank der starken Leistungen von Chebbak, Ayane und dem gesamten Team qualifizierte sich Marokko damit für die Frauen-WM 2023 - als erstes arabisches Land überhaupt. Die Erfolge des marokkanischen Männerteams befeuerten den Enthusiasmus im Land noch mehr. Am 24. Juli erklingt zum ersten Mal die Hymne, im Gruppenspiel gegen Deutschland. Ghizlane Chebbak und Rosella Ayane werden dabei vielleicht in Gedanken bei ihren Vätern sein.