Von "Mentalitätsbestien" und dem goldenen Tor: Als Deutschland 1996 Europameister wurde

Der magische Moment: Oliver Bierhoff schießt Deutschland zum EM-Titel
Der magische Moment: Oliver Bierhoff schießt Deutschland zum EM-Titel / BORIS HORVAT/Getty Images
facebooktwitterreddit

Lang ist es her, als sich Deutschland zum letzten Mal den Titel bei einer Europameisterschaft sichern konnte. 1996 schoß Oliver Bierhoff das erste Golden Goal der Fußballgeschichte und krönte das DFB-Team zum dritten Mal zum Europameister.

25 Jahre später erinnern wir uns nicht nur zurück an den Finalsieg gegen Tschechien in Wembley, sondern vor allem auch an den speziellen Teamspirit, den die deutsche Elf bei diesem Turnier in England auszeichnete und Deutschland zum Rekord-Europameister machte. Die ein oder andere Parallele könnte man auch zum Turnier im Jahr 2021 ziehen.


Was die Europameister von 1996 heute machen


Jürgen Kohler war damals, vor rund 25 Jahren, Vize-Kapitän der DFB-Elf. Der Weltmeister von 1990 verletzte sich allerdings schon zum Auftakt gegen den späteren Finalgegner Tschechien am Knie. Für den Verteidiger war das Turnier gelaufen. Es sollte bei Weitem nicht der einzige Ausfall im deutschen Team bleiben.

Doch trotz aller Widrigkeiten und Umstände, übersprang die Mannschaft von Bundestrainer Berti Vogts jede noch so große Hürde. Im Viertelfinale, als Kroatien eigentlich das klar bessere Team war. Im Halbfinale, als man gegen Gastgeber England in einem epischen Elfmeterschießen die besseren Nerven hatte und Andreas Möller zu seinem berühmten Jubel abdrehte. Und im Endspiel, als man durch einen unberechtigten Elfmeter in Rückstand geriet und nur drei fitte Feldspieler auf der Bank hatte.

Möllers Jubel nach dem Sieg im Elfmeterschießen gegen England
Möllers Jubel nach dem Sieg im Elfmeterschießen gegen England / Shaun Botterill/Getty Images

Jürgen Kohler erinnert sich an den Sommer 1996: Ein Team mit "einem richtig geilen Wesenszug"

Wir haben Jürgen Kohler nach dem Moment des Golden Goal gefragt und was diese deutsche Nationalelf 1996 besonders auszeichnete. Als Top-Favorit ging die Vogts-Truppe nicht in das Turnier. Die ganz große Breite an Weltklasse-Spielern aus den Jahren zuvor hatte der DFB-Kader nicht mehr zu bieten.

Können Sie sich noch an den Moment erinnern, als Oliver Bierhoff das Golden Goal zum EM-Titel 1996 schoß?
Kohler: "Ja klar, ich war zwar verletzt, aber natürlich im Stadion. Es hat ja zunächst nicht danach ausgesehen, dass wir dieses Finale gewinnen. Am Ende haben wir es, denke ich, verdient gewonnen. Für Oliver Bierhoff war es der größte persönliche Erfolg. Dieses Tor ging in die Geschichte ein."

Oliver Bierhoff wurde mit seinen beiden Toren im Finale zum Matchwinner. Wie haben Sie den Spieler Bierhoff im Turnierverlauf und rund um das Finale erlebt?
Kohler: "Er war eigentlich nie Stammspieler im Nationalteam. In Italien hat er ja auch in der 2. Liga angefangen, bei einem kleineren Klub. Dann ging es zu Udinese, wo er regelmäßig geknipst hat. So ist er dann auf den EM-Zug aufgesprungen. Zuvor stand er nicht so im Fokus wie andere Spieler."

Was hat die 96er-Mannschaft ausgezeichnet? Sie haben mal in einem Interview gesagt, "wir waren Mentalitätsbestien".
Kohler: "Ich glaube schon, dass uns das am meisten ausgezeichnet hat. Wenn man mal überlegt, wie viele Verletzungen wir im Turnierverlauf gehabt haben. Das waren alles Verletzungen, wo die Spieler abreisen mussten oder zumindest im Turnierverlauf nicht mehr spielen konnten. Ich hatte einen Innenbandriss. Steffen Freund und Dieter Eilts haben sich das Kreuzband gerissen. Am Ende des Tages sind wir trotzdem verdient Europameister geworden, weil es phantastisch war, was die Mannschaft gezeigt hat. Mit einer unglaublich hohen Moral und einem richtig geilen Wesenszug."

"Er hatte in der Öffentlichkeit nie so ein hohes Standing. Hat es aber trotzdem geschafft '96 so eine Mannschaft hinzuzaubern. Damit hatte er ganz entscheidenden Anteil am Titel."

Kohler über Berti Vogts

Hat die Personalsituation die Mannschaft nochmal enger zusammengeschweißt?
Kohler: "Das war das bezeichnende für das Turnier, dass die Mannschaft trotz der vielen Verletzungen es verstanden hat, immer auf den Punkt da zu sein und sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Das war immer die große Stärke von deutschen Mannschaften - bei allen großen Turniererfolgen.
Natürlich hatten wir auch ein bisschen Spielglück, das brauchst du auch. Gegen Kroatien im Viertelfinale haben wir zwar 2:1 gewonnen, aber ich glaube nicht, dass wir da die bessere Mannschaft waren. Solche Spiele hast du immer in einem Turnierverlauf. Wenn du sie trotzdem gewinnst, dann spricht das dafür, dass du Großes erreichen kannst."

Welche Rolle haben Sie als verletzter Vize-Kapitän im Turnierverlauf übernommen? (Sie haben sich als Kapitän der Mannschaft (für den verletzten Klinsmann) schon im ersten Spiel gegen Tschechien nach 14 Minuten verletzt.)
Kohler: "Ich bin dann mit Dr. Müller-Wohlfahrt morgens ganz früh, um 6 Uhr ca., zurückgeflogen, um zu checken, ob mehr als das Innenband in Mitleidenschaft gezogen war. Die Diagnose war dann aber relativ klar: ein Innenbandriss, sechs bis acht Wochen Pause. Er ist am selben Tag zurückgeflogen, ich kam 3-4 Tage später zurück zur Mannschaft und war dann verbal und mental unterstützend dabei. Ich war nicht unmittelbar dabei, aber immer mitten drin."

Berti Vogts
Für Kohler war Bundestrainer Berti Vogts der Vater des Erfolges / United Archives/Getty Images

Wie würden Sie das Team bewerten im Vergleich zur 90er-Weltmeistermannschaft, das gespickt war mit absoluten Topstars?
Kohler: "Vollkommen unterschiedlich. Trotz der großen individuellen Qualität haben wir es auch 1990 geschafft als Mannschaft zu fungieren. 1996 hatten wir nicht mehr diese Ausnahmespieler - vielleicht noch den ein oder anderen, aber nicht mehr in dieser kompletten Breite. Da hat Berti Vogts einen wesentlichen Beitrag geleistet. Er hat viel gelernt in den Turnieren 1992 und '94. Seine lange DFB-Karriere konnte er 96 mit dem EM-Titel krönen, was mich für ihn sehr gefreut hat. Er hatte in der Öffentlichkeit nie so ein hohes Standing. Hat es aber trotzdem geschafft '96 so eine Mannschaft hinzuzaubern. Damit hatte er ganz entscheidenden Anteil am Titel."