Vier WMs und EMs, vier Finals: Was England-Trainerin Sarina Wiegman richtig macht

Sarina Wegmann nach dem Einzug ins Finale
Sarina Wegmann nach dem Einzug ins Finale / Maryam Majd/GettyImages
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Vier Welt- und Europameisterschaften, vier Endspiele. England-Trainerin Sarina Wiegman hat mit dem Einzug ins Finale eine beeindruckende Serie ausgebaut. Was ist das Geheimnis der Niederländerin?

Wiegman kann unpopuläre Entscheidungen treffen

Die unpopulären Entscheidungen scheut Sarina Wiegman nicht. Vor der EM war eines der großen Themen in England, ob Ex-Kapitänin Steph Houghton mitfahren würde. Wiegman hatte die Kapitänsbinde der langjährigen Abwehrchefin abgenommen und an die jüngere Leah Williamson weitergegeben; dass sie nicht gesetzt sein würde, war klar. Dazu kam eine Verletzung, die 34-jährige Houghton war nicht ganz fit und hatte in der Saison auch einige Spiele verpasst.

Trotzdem hätten viele sie gerne im Kader gesehen, der Guardian schrieb etwa: "Selbst eine halb-fitte Steph Houghton ist besser als keine Steph Houghton". Wiegman ließ sich davon nicht beirren, erklärte, Houghton sei noch nicht so weit, auf dem höchsten Niveau zu spielen und wollte auch das Argument, sie sei eine starke Leaderin neben dem Platz, nicht gelten lassen.

Auch in den Niederlanden ist bereits bekannt, dass die Anzahl an Länderspielen oder die Erfahrung für Wiegman keine Rolle spielen. 2017 traf sie eine ähnliche Entscheidung sogar während des Turniers: Nach zwei Gruppenspielen verlor Mandy van der Berg die Kapitänsbinde und den Startelfplatz, worauf sie sich nach der EM aus der Nationalmannschaft zurückzog. Auch das eine Entscheidung, die nicht bei allen gut ankam, sich aber auszahlte.

Bei dieser WM hat Wiegman ebenfalls gezeigt, dass sie mutige Entscheidungen treffen kann. Sie lässt sich nicht von den ständigen Forderungen von Fans und Medien beirren. Viele forderten etwa, dass Ella Toone für das Halbfinale gegen Australien auf der Bank sitzen solle - Toone zeigte eine gute Leistung und erzielte Englands erstes Tor. Jess Carter hatten vor zwei Jahren auch nicht viele als Stammspielerin auf dem Schirm, aber die Chelsea-Spielerin macht es bei der WM sehr gut.

Keine Scheu vor schwierigen Konversationen

Wiegman urteilt nach dem Leistungsprinzip, sie ist für ihren scharfen analytischen Fußballverstand bekannnt. Sie hat schon Erfahrung in der Beurteilung von Spielerinnen, hat nach ihrer aktiven Karriere als Mittelfeldspielerin mit über 100 Einsätzen für die Niederlande auch schon als Scout für den niederländischen Fußballverband gearbeitet. Dann folgte die Beförderung zur Co-Trainerin und nach der WM 2015 zur Interimstrainerin. Wiegman konnte in dieser Zeit aber so sehr überzeugen, dass der niederländische Verband die Suche nach jemandem Neuen einstellte und ihr einen Vertrag als Cheftrainerin gab.

Das könnte auch an ihrem "klaren Führungsstil" liegen, wie es die Rekordtorschützin der Niederlande, Vivianne Miedema, sagte. Wiegman weiß, wie sie spielen will, sowohl in den Niederlanden als auch in England wird ihre offene Kommunikation gelobt. Dabei scheut Wiegman auch die unangenehmen Gespräche nicht, wie Beth Mead sagt: "Schwierige Konversationen zu führen, ist definitiv etwas, was für uns ein Wendepunkt war".

Auch innerhalb des Kaders habe Wiegman die Dynamik zum Besseren verändert, die Spielerinnen würden nun mehr darüber reden, was sie voneinander erwarten und was verbessert werden könnte. "Früher haben wir das vielleicht persönlich genommen, aber wir wissen jetzt, dass uns diese Gespräche als Team weiterbringen", erklärte Mead

Beth Mead
Beth Mead im England-Trikot / Quality Sport Images/GettyImages

Mead ist eine der Spielerinnen, deren Karriere unter Wiegman eine ganz neue Wendung genommen hat. Vor der EM hatte sie ihr Talent stellenweise gezeigt, aber der Arsenal-Spielerin fehlte die Konstanz. Wiegman gebe den Spielerinnen das Gefühl, zu den Besten der Welt zu gehören, sagt Mead. Wiegman ist anspruchsvoll, aber sie vertraut ihrer Startelf komplett.

Diese offene Kommunikation mag selbstverständlich klingen, sie ist es aber nicht. Erst vor Kurzem wurde durch t-online bekannt, dass Deutschlands Trainerin Martina Voss-Tecklenburg bei der WM mit einigen Spielerinnen überhaupt nicht geredet habe. Ein großer Kontrast zu Wiegman, die regelmäßig Teambuilding-Events organisiert und mit den Spielerinnen oft Einzelgespräche führt.

Noch größer ist der Unterschied zu Spaniens Trainer Jorge Vilda, der seit der letzten EM wegen seines Umgangs mit den Spielerinnen stark in der Kritik steht. Zwei komplett unterschiedliche Trainer-Stile treffen aufeinander, offene Kommunikation gegen Kontrolle. Symbolisch auch, dass die England-Spielerinnen nach dem Sieg im Halbfinale fröhlich mit Wiegman feierten, während Vilda nach dem Viertelfinale alleine jubelte.

Jorge Vilda
Spaniens umstrittener Trainer Jorge Vilda / Visionhaus/GettyImages

Klare Vorgaben und Akribie

Auch bei der Taktik hat Wiegman klare Vorstellungen für ihr Team, viele beschreiben sie als akribische Perfektionistin. Mead erklärte, England habe mit Wiegman "nicht nur einen Plan A, sondern auch B, C und D". Das gebe den Spielerinnen das Selbstbewusstsein, auf verschiedene Situationen vorbereitet zu sein. Ihr Co-Trainer bestätigt das The Athletic gegenüber: Wiegman bereitet vor dem Spiel mit ihrem Team alles vor, von Platzverweisen bis zu frühen Gegentoren.

Der Plan A ist dabei klar. Wiegman vertraut fast immer der gleichen Startelf, Konstanz ist für sie ein heiliges Wort. Das kann Fluch und Segen zugleich sein: Manchmal würden Änderungen ihren Teams vielleicht gut tun, um unberechenbarer zu sein. Andererseits ist England dadurch sehr eingespielt, und der Erfolg gibt ihr Recht.

Wiegman setzt auf klare Vorgaben. Jede Spielerin weiß genau, was sie auf dem Platz zu tun hat. Ihr Fußball ist vielleicht der beste Beweis dafür, dass eine gute Taktik nicht bedeuten muss, dass den Spielerinnen ihre Individualität genommen wird. Oft wird in Deutschland von der fehlender "Straßenfußball-Identität" gesprochen, mit dem Vorwurf, alles werde zu viel überdacht.

Wiegman zeigt, dass die Spielerinnen eine klare Rolle haben können und trotzdem ihre Freiheiten behalten. Lauren Hemp etwa ist eine talentierte Dribblerin und zeigt geniale Einzelaktionen, aber in Wiegmans System hat sie erst recht zu mehr Stringenz und Effizienz gefunden. Gerade den jungen Spielerinnen, die für England bei dieser WM glänzen, helfen diese Vorgaben enorm.

Wiegmans Vorgaben für England sind klar, wie auch schon bei den Niederlanden: Sie will geduldig das Spiel aufbauen und vorne mit schnellen Kombinationen die Gegner überrumpeln. Ein Schwachpunkt ist bisher, dass Keira Walsh, das Mittelfeld-Metronom der Lionesses, oft von den Gegnerinnen durch Fraudeckung aus dem Spiel genommen wurde. Dann fiel es England schwer, durch das Mittelfeld aufzubauen. Gegen Australien gelang ein flüssiges Angriffsspiel trotzdem, vor allem über den linken Flügel mit Rachel Daly.

Wie sieht Wiegmans Plan B aus?

Bei der WM musste Wiegman mehr improvisieren als zuvor: Mit Mead, Kapitänin Leah Williamson und Kreativspielerin Fran Kirby fielen drei Leistungsträgerinnen aus, dazu kam die rote Karte von Lauren James gegen Nigeria. Es war Wiegmans bislang härtester Test mit England, und sie hat ihn nur knapp bestanden. Gegen Nigeria stellte sie ihr Team bis zur späten roten Karte nicht um, was sich fast gerächt hätte. Im Elfmeterschießen zu gewinnen, kann kein Teil von ihrem Plan gewesen sein.

Gegen Australien zeigte England den bisher besten WM-Auftritt: Überlegter und doch schneller Fußball, kreativ und effizient. Dort musste Wiegman allerdings nicht auf den Plan B zurückgreifen, und so hängt weiter die Frage in der Luft: Wie würde sie reagieren, falls England partout nicht zum Torerfolg kommt?

Aber zunächst wird der Plan A zum Einsatz kommen. Wiegman wird sich wieder etwas einfallen lassen, gegen Spanien wird ihr Team wohl weniger Ballbesitz haben als gewohnt. Das Finale ist das Re-Match des EM-Viertelfinales im letzten Jahr. Dort gewann Wiegmans Team überlegen gegen ein Spanien, das viel den Ball hatte aber wenig Chancen kreierte. Wiegman wird dieses Spiel wie immer gut analysiert haben, um dieses Mal noch besser vorbereitet zu sein. Auf das Vertrauen ihrer Spielerinnen kann sie sich dabei verlassen.