Frauen-WM: England zittert sich ins Viertelfinale - aber haben sie Weltmeister-Potenzial?

Erleichterung nach dem Sieg im Elfmeterschießen bei England
Erleichterung nach dem Sieg im Elfmeterschießen bei England / Justin Setterfield/GettyImages
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Alle Daten-Computer und Analysen waren sich vor der WM einig: Drei große Favoriten gibt es - Deutschland, die USA und England. Aber die Unberechenbarkeit einer WM zu berechnen, das funktioniert meist nicht. So sind inzwischen Deutschland und die USA ausgeschieden, und auch England konnte gegen Nigeria nicht überzeugen. Die Elf von Sarina Wiegman spielte nicht wie ein Europameister und gewann erst im Elfmeterschießen gegen die Afrikanerinnen.

Die WM des Schreckens für die Favoriten

Der Kreis der Titelanwärter sei so groß wie nie, das war der generelle Konsens vor der WM. Aber dass es so schnell gehen würde mit der Entzauberung der großen Favoriten, damit hätten die Wenigsten gerechnet.

Deutschland ist bereits nach der Gruppenphase ausgeschieden. Nach uninspirierten und statischen Leistungen gegen Südkorea und Kolumbien war das auch völlig verdient. Die USA dagegen bekamen durch einen Pfostenschuss von Portugal im letzten Gruppenspiel noch eine Gnadenfrist. Die schienen sie gegen Schweden zunächst zu nutzen. Sie dominierten das Spiel, hatten Chance um Chance, doch an der grandiosen Zećira Mušović kamen sie nicht vorbei.

Tragisches Aus im Elfmeterschießen, um Millimeter gescheitert - der Stoff für große Geschichten, der noch in Jahren erzählt werden wird. Aber die Knappheit des Aus sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch die USA letztendlich verdient ausgeschieden sind.

Gegner Schweden wirkte allerdings eben so wenig titelreif: Am Ende hatten sie zwar das Glück und eine tolle Torhüterin auf ihrer Seite. Das gesamte Spiel über kaum zu einer großen Möglichkeit zu kommen, kann aber nicht Teil von Peter Gerhardssons Matchplan gewesen sein. Ecken und Elfmeter haben Schweden ins Viertelfinale gebracht, aber aus dem offenen Spiel zeigen die Skandinavierinnen bisher zu wenig.

Spanien hat mit dem 0:4 gegen Japan bereits ein deutliches Warnzeichen bekommen. Verteidigerin Irene Paredes nannte die Schlappe zwar einen "Unfall", aber dass die defensiven Probleme nicht wiederkommen werden, erscheint fraglich. Die blasse Schweiz war da nicht wirklich ein Härtetest.

Nur Japan konnte bisher auf voller Linie überzeugen - ein Team, das vor dem Turnier fast niemand als den großen Favoriten auf dem Zettel hatte.

England: Die Wiegman-Symptome beginnen, aufzutreten

Anders als England: Nach der Heim-EM im letzten Jahr war der Druck auf das Team von Sarina Wiegman immens. Bis jetzt war spätestens im Halbfinale Schluss gewesen für die Lionesses, mit der Erfolgstrainerin Wiegman sollte sich das nun ändern. Wiegman kann ihre Philosophie einem Team sehr schnell vermitteln, sie ist eine akribische Trainerin und hebt Spielerinnen allein durch ihr Vertrauen in sie auf ein neues Level. Wiegman zählt auf eine eingespielte Elf, an der sie selten rüttelt.

Sarina Wiegman
"Never change a winning team": Sarina Wiegmans Motto / Eurasia Sport Images/GettyImages

Diese Kontinuität kann ein Vorteil sein, wird aber oft auch zu mangelnder Flexibilität. Erst in der 88. Minute wechselte Wiegman gege Nigeria - und das obwohl ihr Matchplan offensichtlich nicht aufgegangen war. Keira Walsh, gerade von einer Verletzung zurückgekehrt, hatte kaum Einfluss auf das Spiel und stand trotzdem 120 Minuten auf dem Platz. Nur zwei Wechsel in 120 Minuten sind selbst für Wiegmans Verhältnisse sehr wenig, auch wenn der Plan, sich irgendwie ins Elfmeterschießen zu retten, aufgegangen ist.

Trotzdem muss England für die nächsten Spiele viel ändern. Sarina Wiegman wird ihre bewährten Methoden aber höchstwahrscheinlich nicht plötzlich über Bord werfen und an ihrer Startelf festhalten. Das macht England zu berechenbar, wie auch schon die Niederlande in den späteren Jahren von Sarina Wiegmans Amtszeit.

Vorne ab jetzt ohne die beste Spielerin - hinten anfällig

Nach der roten Karte von Lauren James wird sie allerdings keine andere Wahl haben, als zu improvisieren. James sah völlig unnötig in der 87. Minute die rote Karte, als sie ihrer Gegenspielerin auf den Rücken trat. Damit fällt Englands bis dato beste Spielerin wohl für den Rest der WM aus, eine Drei-Spiele-Sperre wird erwartet.

Halimatu Ayinde, Lauren James
Lauren James wird vermutlich nicht mehr zum Einsatz kommen können / Eurasia Sport Images/GettyImages

Vorne wird England damit viel individuelle Klasse verlieren. Schon gegen Nigeria sah es mager aus, die größeren Chancen hatten auch vor der roten Karte die Super Falcons. Rachel Daly, die Stürmerin, die in Wiegmans System als Linksverteidigerin eingesetzt wird, war mit ihren Kopfbällen die gefährlichste Spielerin der englischen Elf, ansonsten ging aber wenig.

Defensiv sah es nicht unbedingt besser aus. Hinter Rechtsverteidigerin Lucy Bronze klafften verlassene Räume wie im australischen Outback. Das muss Wiegman bei dem offensiven Spielstil von Bronze in Kauf nehmen, aber die Nigerianerinnen zeigten diese Schwachstelle gut auf. Zweimal musste die Latte die Lionesses retten.

Wie die anderen beiden ausgeschiedenen Favoriten, Deutschland und USA, hat auch England mit Verletzungen zu kämpfen. Den USA fehlte die Stabilität von Becky Sauerbrunn und die Kreativität von Christen Press, Deutschland hatte ein Problem in der Außenverteidigung und England vermisste die Dribblings von Beth Mead, die langen Pässe von Leah Williamson, die Übersicht von Fran Kirby. Aber auch die verbleibenden elf Spielerinnen spielten ihre individuelle Klasse zu selten aus.

England ist weiter - aber wie (fast) alle anderen müssen sie sich steigern

Ausgerechnet das Elfmeterschießen rettet England nach miserabler Leistung - eine witzige Pointe. Wieder ist es die EM-Heldin Chloe Kelly, die England rettet. Aber Weltmeisterinnen? Das wirkt bei dem englischen Team aktuell wie eine gewagte These. Der Turnierbaum spielt den Europameisterinnen dabei in die Karten, das Viertelfinale wird vergleichsweise leicht und erst im Finale warten dann Schweden, Japan oder Spanien.

Trotzdem muss sich England steigern, um im Kampf um das Endspiel Frankreich oder Australien zu schlagen. Das ist soweit die Erkenntnis des Turniers: Egal, wer Weltmeister wird, das Team wird auf dem Weg nach Sydney einige Probleme beheben müssen und Pannen überwinden. Bis auf Japan - Japan muss das Niveau der bisherigen Spiele halten und ist plötzlich Favorit.