Schluss mit dem Welpenschutz - Lasst die jungen Hunde von der Leine!

Lennart Karl ist derzeit eines der jungen Gesichter der Bundesliga, das jedem Fußballfan das Herz aufgehen lässt. Es braucht mehr Mut, diese Youngster von der Leine zu lassen.
Bayern-Juwel Lennart Karl
Bayern-Juwel Lennart Karl / Alexander Hassenstein/GettyImages
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In seinem ersten Startelfeinsatz in der Champions League den "Man of the Match“-Award abgreifen und mit einem Treffer nach fünf Minuten den Heimsieg gegen Club Brügge einleiten – kann man mal so machen, Lennart Karl!

Der Shootingstar ist nicht nur ein aufstrebendes Sternchen am funkelnden Talentehimmel des FC Bayern München, sondern gehört zu den beeindruckendsten und vielversprechendsten Talenten im gesamtdeutschen Fußball und weit darüber hinaus. Am Mittwochabend konnte der 17-Jährige in der Königsklasse gegen den belgischen Spitzenklub eindrucksvoll unter Beweis stellen, wie viel Qualität in seinen Fußballschuhen steckt und hat damit Lust auf mehr gemacht.

In einer mittlerweile zu oft von taktischen Zwängen erdrückten Welt des Fußballs, ist es dieser Schuss Leichtigkeit, der nicht nur bei den Fans extrem gut ankommt, sondern auch einen erheblichen Mehrwert für das Spiel als solches mit sich bringt. Auf dem Platz, aber auch in seiner Außenwirkung. Es wirkte fast so, als hätte Karl kurz vor dem Anpfiff gegen Club Brügge seinen Schulranzen in die Ecke geworfen, seinen Tetra Pak Eistee geschnappt, die Fußballschuhe angezogen und mit den Jungs aus dem Dorf den Bolzplatz unsicher machen wollen.

Ist es nicht genau dieses Gefühl, das sich viele von uns deutlich öfter wünschen, wenn sie Fußball schauen? Lebt nicht in jedem von uns noch dieser Traum aus Kindertagen, den wir durch Youngsters wie Lennart Karl in anderen Schuhen verwirklicht sehen?

In Deutschland hat man zu oft noch die Hose voll

Leider habe ich aber das Gefühl, dass man sich in Fußball-Deutschland beim Einsatz von großen Talenten noch immer viel zu oft in die Hose scheißt, was dazu führt, dass viele dieser Youngsters irgendwo auf der Strecke stehen bleiben, ihr großes Potenzial nicht ausschöpfen können und sich dadurch auch nicht wirklich weiterentwickeln können. Es sind die Ketten an den Füßen der nachrutschenden Ausnahmekönner, die dem deutschen Fußball in puncto Nachwuchsförderung im Endstadium ins eigene Fleisch schneiden und eine Entfaltung von wahnsinnig viel Qualität verhindern.

Mein klarer Appell lautet daher: Lasst die jungen Hunde von der Leine!

Frei und unbekümmert: Lennart Karl
Frei und unbekümmert: Lennart Karl / Stefan Matzke - sampics/GettyImages

Alter kein Merkmal für Qualität

Ich kann es ehrlich gesagt einfach auch nicht mehr hören. In Deutschland scheint es viel zu oft so zu sein, dass sich anhand eines Blickes auf das Alter eines Spielers entscheiden soll, ob er ein guter oder schlechter Kicker ist. Mal sind sie vermeintlich zu alt, schaden dem Umbruch und werden deshalb trotz starker Leistungen nicht mehr berücksichtigt und mal sind sie eben zu jung und unerfahren, um die alten Hasen zu ersetzen. Es wirkt wie ein permanentes Wischiwaschi von Ausreden. Wenn gar nichts mehr hilft, dann sind sie halt einfach zu klein oder langsam. Meiner Meinung nach ein Irrsinn! Wir schicken die Großen ja auch nicht zum Basketball oder die Schnellen zur Leichtathletik. Wie Spanien, sollten wir vor allem darauf achten, ob jemand mit der Kugel umgehen kann oder nicht.

Die Wertschätzung, die verdiente Stars zum Beispiel in Italien erhalten, ist hier beinahe nicht oder zumindest nur selten wirklich vorhanden. Doch dieser Schwachsinn bewegt sich auch in die andere Richtung. Auch beim Thema Welpenschutz für aufstrebende Nachwuchskicker heißt es dann: Der ist noch zu jung, den will man nicht verheizen. Vielleicht würde es dem deutschen Fußball aber ja helfen, wenn man sich erstmal auf die Leistungen und Qualitäten konzentrieren würde, anstatt Vermutungen darüber aufzustellen, ob jemand noch nicht oder nicht mehr bereit ist, auf höchstem Niveau zu performen.

Die Alten sind zu alt und sollen den Jungen Platz machen, doch dann sind die Jungen wiederum zu jung und unerfahren, um schon die Nachfolge der Alten anzutreten. Ja was denn nun?! Geht es hier noch um echte Leistung oder vermeintlich theoretische Leistungsfähigkeit auf dem Papier?

Der FC Barcelona beweist Cojones

Schaut man sich den oft gescholtenen FC Barcelona an, dann kann man den Katalanen zumindest nicht vorwerfen, dass sie sich bei der Weiterentwicklung ihrer Nachwuchsspieler ins Hemd machen würden. Die jungen Wilden werden regelmäßig ins kalte Wasser geworfen und man lässt sie einfach drauflos schwimmen. Egal, ob Messi, Gavi, Lamine Yamal, Pau Cubarsi oder zuletzt Dro Fernández – wer sich in der Jugendakademie La Masía beweist, bekommt meist auch eine echte Chance und zahlt diese in der Regel auch sehr oft zurück. Ich würde mir diese katalanischen Cojones auch deutlich öfter in Deutschland wünschen.

Ein weiteres Beispiel ist Ajax Amsterdam. Spieler wie Matthijs de Ligt, Frenkie de Jong oder zahlreiche andere Stars der Vergangenheit profitierten irgendwann mal davon, dass ihnen früh Vertrauen geschenkt wurde und ihnen dabei auch Fehler eingestanden wurden. Nur so wurde der Name auf dem Rücken dann auch groß und größer.

Lamine Yamal und Pau Cubarsi
Lamine Yamal und Pau Cubarsi / FRANCK FIFE/GettyImages

Die Klubverantwortung liegt nicht darin, Spieler nie hinfallen zu lassen

Natürlich ist es wichtig, Jugendspieler bei der Heranführung an den Männerfußball an die Hand zu nehmen und sicherlich gibt es ab einem gewissen Punkt auch die Ebene "Verheizen". Trainerlegende Hermann Gerland gab aber einst schon den recht schlauen Ratschlag: Die müssen spielen!

Nachwuchstalente in Watte zu packen und vor der Öffentlichkeit zu verstecken oder darauf zu hoffen, dass kein größerer Schaden entsteht, ist jedoch der falsche Weg. Die jungen Kerle müssen auch mal auf die Nase fallen dürfen, denn nur so können sie an ihren Herausforderungen wachsen. Dafür braucht es Erfahrungen in alle Richtungen. Dass dies auch mit Rückschlägen verbunden sein kann, gehört zum Geschäft und kann sich am Ende als hilfreich erweisen – siehe Martin Ødegaard.

Viel wichtiger wäre es, zu verhindern, dass sie bei Erfolg frühzeitig abheben, bei Misserfolg einbrechen oder bei Hochs und Tiefs in den Medien vorschnell in den Himmel gehoben oder in die Hölle gestürzt werden. Darum sollten sich die Klubs in erster Linie kümmern.

Die Aufgabe der Klubs sollte nicht darin bestehen, dafür zu sorgen, dass Talente nie Rückschläge erleiden oder sie vor solchen zu beschützen, sondern sie bewusst durch diese Situationen zu begleiten, um ihre Ausbildung zu komplettieren. Diamanten entstehen unter Druck – der Verein sollte die Fassung sein, in der dieser Diamant gefestigt sitzt und glänzt. Auch heutige Weltstars wie Erling Haaland, Jude Bellingham oder Kylian Mbappe hatten Trainer, die bereits in jungen Jahren auf ihre Qualitäten bauten und ihnen die Möglichkeit gaben, diese unter Beweis zu stellen.

Louis van Gaal - der Meister der Talentförderung

Oft hängt der Job des Trainers jedoch vom sportlichen Erfolg ab. Das führt offenbar dazu, dass nur wenige den Mut haben, wirklich auf den Nachwuchs zu setzen. Was die Youngster aber benötigen, sind Wurzeln und Flügel. Einer, der das nahezu perfekt umsetzte, war der Niederländer Louis van Gaal. Unter ihm entwickelten sich allein in Deutschland Bayern-Talente wie Thomas Müller, Holger Badstuber oder David Alaba zu absoluten Stars und letztlich zu Klubikonen. Auch Spieler wie Bastian Schweinsteiger oder Philipp Lahm konnten sich unter van Gaal weiter festigen. Mit all diesen Spielern gelang es den Bayern, eine eigene DNA zu entwickeln und den Grundstein für eine neue, erfolgreiche Ära zu legen.

Auch für die deutsche Nationalmannschaft war das letztlich Gold wert, denn es war diese Generation, die den WM-Titel sicherte.

Thomas Müller profitierte einst vom Vertrauen von Louis van Gaal
Thomas Müller profitierte einst vom Vertrauen von Louis van Gaal / SASCHA SCHUERMANN/GettyImages

Auch in seiner Zeit als Trainer von Ajax Amsterdam warf van Gaal beispielsweise den 16-jährigen Clarence Seedorf ins Haifischbecken Profifußball. Ebenso vertraute er auf die damals jungen Patrick Kluivert, Edgar Davids oder Nwankwo Kanu. Beim FC Barcelona waren es Spieler wie Andrés Iniesta, Xavi, Víctor Valdés, Carles Puyol und viele mehr, die vom Vertrauen der niederländischen Trainerlegende profitierten. In England war es Marcus Rashford, der seinen steilen Aufstieg Louis van Gaal verdankte.

Viel zu lange hatte der FC Bayern München keinen Trainer mehr wie van Gaal und die Hoffnung ist jetzt groß, dass Vincent Kompany mehr und mehr den Mut findet, den Talenten eine Bühne zu bereiten und in eine derartige Förderer-Rolle schlüpft. Das würde auch dem teuren Campus der Bayern endlich gerecht werden.

Kompany beweist endlich Mut und sollte diesem Kurs nun treu bleiben

Dass Kompany sich nun am Mittwoch dazu entschied, dem 17-jährigen Lennart Karl eine deutlich gewichtigere Rolle zu geben, macht Mut. Dies muss jedoch mit noch mehr Mut fortgesetzt werden. Schluss mit "zu jung” oder "zu klein". Gebt den Nachwuchsspielern eine Chance, sich durchzubeißen, und ihr werdet sehen, welche große Freude sie euch bereiten werden.

Es gibt weltweit eindrucksvolle Beispiele dafür, dass das funktionieren kann. Ob es sich um einen Franco Mastantuano in Argentinien, einen Lamine Yamal in Spanien oder einen Francesco Camarda in Italien handelt – von den vielen Talenten in Brasilien oder Frankreich ganz zu schweigen – es gibt zahlreiche Beispiele, wieviel Qualität da nachkommt und nach Vertrauen und Einsatzzeit lechzt.

Vincent Kompany und Lennart Karl
Vincent Kompany und Lennart Karl / Stefan Matzke - sampics/GettyImages

In Deutschland braucht es endlich mehr Mut für diesen eigenen Weg, dann würden wir uns vielleicht an noch mehr eigenen Talenten erfreuen, die in der fußballerischen Heimat ihren Weg gehen. Vielleicht hätten wir dann einen ähnlich breiten Talentepool wie England, Frankreich oder Spanien. David Odogu oder Dzenan Pejcinovic sind beispielsweise Talente, die vielleicht jetzt schon etwas weiter sein könnten. Der neidische Blick ins europäische Umfeld ist unnötig.

Lennart Karl und Said El Mala sind aktuell die Spitze eines Eisbergs, der unter der Oberfläche schwimmt und darauf wartet, ans Licht zu kommen. Ebenso ein Tiago Perreira Cardoso bei Borussia Mönchengladbach, der in jungen Jahren schon zu Länderspielen für Luxemburgs A-Elf berufen wurde.

Nicht nur beim FC Bayern gibt es also zahlreiche junge Spieler, die das Potenzial haben, der Welt zu zeigen, was in ihnen steckt, und der Bundesliga ein anderes Gesicht zu geben. Ein Gesicht, das neben der Weiterentwicklung von Talenten aus dem Ausland auch der eigenen Nachwuchsarbeit Wertschätzung erteilt – von den Profi-Klubs über die Nachwuchsleistungszentren und Stützpunkte bis hin zu den kleinen Dorfvereinen. Bundesweit leisten Trainer im Nachwuchsbereich tolle Arbeit und produzieren Talente. Wir haben kein Talenteproblem, sondern ein Problem damit, Talente mutig voranzubringen und ihnen auch mal Fehler oder Ecken und Kanten zuzugestehen. Da liegt doch der Hase im Pfeffer, oder etwa nicht?

Das Vertrauen auf Qualitäten sollte dem Blick aufs Alter vorausgehen

Vielleicht etwas vermessen, es in diesem Zusammenhang zu erwähnen, aber aus eigener Trainererfahrung kann ich berichten, dass es sich lohnt, auf fußballerische Qualitäten und nicht nur auf das Alter oder physische Merkmale zu blicken.

Bei meiner letzten Trainerstation setzte ich in einer fast ausschließlich aus dem älteren Nachwuchsjahrgang bestehenden Liga auf Kicker aus dem ein Jahr jüngeren Jahrgang. In beinahe jeder Startelf standen fünf bis sechs Spieler des jüngeren Jahrgangs auf dem Rasen und durften sich gegen die älteren und körperlich oft etwas weiteren Spieler beweisen – zwar nicht im Bereich des Profifußballs, aber dennoch nah dran in der höchsten Spielklasse des Bundeslandes. Das brachte natürlich auch gewisse Risiken mit sich und war womöglich auch das eine oder andere Mal dafür verantwortlich, dass wir unnötig Punkte liegen ließen. Dass es der Entwicklung dieser talentierten Kicker aber nicht geschadet hat, wage ich aus vollster Überzeugung zu behaupten. Ich bin davon überzeugt, dass es ihnen in dieser Spielzeit hilft, noch besser mit den Aufgaben umzugehen - auch wenn vielleicht nicht jeder diese Überzeugung teilt.

Schluss mit unnötigem Welpenschutz

Schluss mit vermeintlichen Ausreden oder unnötiger Vorsicht! Gebt den jungen Wilden die Möglichkeit, aus Fehlern zu lernen und an Hürden zu wachsen – immer mit der Gewissheit, dass man ihnen ihre Fehltritte zugesteht und sie auffängt wenn sie mal fallen. Der unnötige oder übertriebene Welpenschutz muss ein Ende haben. Bitte mehr Mut zum eigenen Nachwuchs und zur eigenen Nachwuchsarbeit, meine Herren!


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