Momentaufnahme bei Bayer 04: Alter, was machen wir da oben?!

Der SVB ist wieder - oder besser immer noch - da!
Der SVB ist wieder - oder besser immer noch - da! / Lars Baron/Getty Images
facebooktwitterreddit

Es ist Montag, der Katertag der Bundesliga. Man blickt zurück auf den vergangenen Spieltag und resümiert das Ergebnis. Während einige schon nach dem nächsten Konterbier lechzen, feiert eine kleine Provinz im Rheinland einfach weiter: In Leverkusen herrscht nach dem 3:0 gegen Schalke Partystimmung.

Nach Abpfiff des überzeugenden Auftrittes in der Veltins Arena ging ein Raunen durch Fußballdeutschland. Still und heimlich hatte sich die Werkself zum Gewinner des 10. Spieltages gemausert. Niemand (!) aus den Top-7 der Bundesliga konnte am vergangenen Wochenende gewinnen - bis auf Bayer 04.

So kommt es, dass sich die Chemiestadt über einen verdienten zweiten Tabellenplatz freuen kann. Und es herrscht absolute Fassungslosigkeit über die eigene Leistung. Fassungslosigkeit, weil man so überzeugend, so spielstark, so selbstbewusst auftritt. Und nicht, weil man - wie in den vergangenen Jahren - regelmäßig Punkte liegen ließ.

Topleistungen unter schlechten Voraussetzungen

Die Werkself ist in der Bundesliga noch ungeschlagen. Nur für den VfL Wolfsburg gilt diese Tatsache ebenso, doch die Stadt der Autos rangiert immerhin vier Punkte hinter der Stadt des Aspirins. Bis auf den Ausrutscher gegen Slavia Prag in der Europa League (0:1) konnte Leverkusen auch wettbewerbsübergreifend mehr als überzeugen. Es fluppt.

Das ist, in Anbetracht der Umstände unterm Bayerkreuz, schon irgendwie überraschend. Im Sommer verließen mit Kai Havertz und Kevin Volland die wohl beiden besten Spieler den Verein. In der laufenden Saison hat Leverkusen zudem mit einer immens anstrengenden Dreifachbelastung zu kämpfen, muss also daher quasi alle drei Tage auf dem Feld ran. Und sollte das nicht genug sein, muss Coach Peter Bosz verletzungsbedingt reihenweise auf (Stamm-) Spieler verzichten (Aranguiz, Arias, Palacios...).

Dennoch grüßt man Fußballdeutschland als Vize (haha Vizekusen und so). Das ist, selbst als eingefleischter Fan, irgendwie eine Überraschung. In den vergangenen Saisons waren die Rahmenbedingungen oftmals deutlich besser, doch das konnte man selten nutzen. Nun, inmitten der Covid19-Apokalypse, setzt sich eine gebeutelte Werkself an die Spitze.

Aber wie?!

Anders als die Frage nach dem Sinn des Lebens findet man in den Katakomben der BayArena hierauf die Antworten. Zuallererst finden wir uns auf unserer Schnitzeljagd im Büro des Cheftrainers wieder. Peter Bosz steht sinnbildlich für das "neue" Gesicht der Werkself, denn auch der Niederländer hat sich in den vergangenen Monaten weiterentwickelt.

Bosz findet sich mittlerweile in Leverkusen zurecht. Der 57-Jährige wurde - auch aufgrund der hohen Belastung - dazu gezwungen, seinen offensiven wie anstrengenden Hurra-Fußball ad acta zu legen und stattdessen die Kräfte zu schonen. Man soll es kaum glauben, aber mittlerweile rotiert Bosz sogar mal kräftig das Team durch, wenn die Werkself auch unter der Woche spielen muss. Bis auf Torhüter Hradecky baut der Trainer die Mannschaft freudig um, je nach Belastungssteuerung.

Somit kommt immer häufiger die berühmte zweite Garde des Teams zu Einsatzzeiten. Und hier finden wir die zweite Antwort auf unsere Frage. Der Reservisten-Anzug der Leverkusener sitzt nämlich perfekt, allen voran Julian Baumgartlinger und Aleksandar Dragovic sind dafür hervorragende Beispiele. Beide werden in den Sozialen Netzwerken regelrecht gehyped!

Das Österreicher-Duo wurde bislang innerhalb der Fanszene eher gescholten als gelobt, Dragovic war bislang sowieso immer ein Wechselkandidat. Doch der Innenverteidiger nahm seine Rolle als Aushilfe an und wusste durch enorm starke Leistungen zu überzeugen. Mittlerweile werden erste Stimmen laut, die den 29-Jährigen von einem bevorstehenden Wechsel abhalten wollen.

Und auch Baumgartlinger wusste seine Chancen zu nutzen. Aufgrund der langwierigen Verletzungsprobleme des Kapitäns Charles Aranguiz ist der Defensivmann als Sechser im Dauereinsatz. Doch inzwischen schlägt kein Fan mehr die Hände über den Kopf zusammen, wenn der Routinier den Ball am Fuß hat. Man solls kaum glauben, aber Baumi ist einer DER Faktoren des Leverkusener Spiels geworden. Defensiv abgebrüht, offensiv mit klugen Pässen und zudem mit einer neugefundenen Torgefahr (3 Saisontreffer) - auch der Zweite aus der Ösi-Fraktion ist mittendrin statt nur dabei.

Einsatz und Qualität stimmen

So kommt es, dass es in der kompletten Kaderbreite eigentlich kaum einen Spieler gibt, der qualitativ nicht mithalten kann. Das gibt dem Trainer natürlich ein sichere Gefühl: Muss der Eine mal pausieren, darf eben der Andere ran. An der Leistung auf dem Platz ändert das nur wenig, siehe auch beim berüchtigten Sturmduell zwischen Lucas Alario und Patrik Schick.

Abgerundet wird das Wunderland durch eine Tatsache, die verwunderlich und gleichermaßen logisch ist. Durch den Abgang von Havertz, der bis zum Sommer unumstritten der Aktivposten des Leverkusener Offensivspiels war, wurden nun andere Spieler zu mehr Verantwortung gezwungen. Statt alle Bälle auf das Supertalent zu spielen, muss jeder nun seinen Teil im Spiel beitragen.

Ein wesentliches Gesicht des Leverkusener Erfolges: Nadiem Amiri
Ein wesentliches Gesicht des Leverkusener Erfolges: Nadiem Amiri / LEON KUEGELER/Getty Images

Das führt dazu, dass vor allem die kreativen Faktoren aus dem Zentrum wie Nadiem Amiri, Kerem Demirbay und Florian Wirtz mehr Spielanteile haben. Doch auch über die Außen, wo Leon Bailey überraschenderweise vorbildliche Leistungen zeigt, kommt mehr Gefahr. Lachte man im Sommer noch über die Floskel der Vereinsführung, dass man Havertz' Abgang durch das Kollektiv lösen möchte, muss man nun anerkennen: Alter, das klappt ja?!

Zurücklehnen und genießen

Mittlerweile hat sich die Werkself eine ordentlichen Reserve an Selbstbewusstsein angefuttert. Mit dem Ergebnis, dass auf dem Platz keine Panik aufkommt, wenn der Gegner mal eine gute Phase hat. Duelle, die man in der Vergangenheit sicher nicht gewonnen hätte, konnte man in dieser Saison für sich entscheiden (etwa das 2:1 gegen Bielefeld oder das 1:0 gegen Mainz). Leverkusen tritt auf dem Grün ganz cool, ganz abgeklärt auf. Das macht es für den Gegner natürlich schwierig, dagegen anzukommen.

Es ist definitiv die beste Leverkusener Phase der vergangenen Jahre. Die Mannschaft, die oft nur aus vielen Einzelspielern bestand, ist zu einem Team herangewachsen. Diesen Spirit, dieses Gefühl - man kann es bis ins heimische Wohnzimmer spüren. Der Fußball ist in Leverkusen wieder faszinierend und macht Spaß. Die Entwicklungen der vergangenen Jahre haben sich endlich zusammengefügt. Das Puzzle ergibt einen Sinn.

Selbst wenn man nach Gründen der Kritik suchen würde, finden würde man keine. Von daher lasset uns entspannt zurücklehnen und diese Zeit genießen. Peter Bosz und seine Crew haben eindrucksvoll gezeigt, wohin stetiges Vertrauen in die eigene Arbeit führen kann: Nach oben.