Heute vor zehn Jahren: Iniesta verzaubert ein ganzes Land!

Der Moment, als Iniesta zur Legende wurde
Der Moment, als Iniesta zur Legende wurde / PEDRO UGARTE/Getty Images
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Wenn man die Leute später nach diesem einen Moment fragt, scheinen sie wie von einem Traum zu sprechen. Jeder weiß, wo er gerade war, und mit wem, und was er gerade tat. Doch den exakten Moment, diesen, der zwischen Ungläubigkeit und Bewusstsein steht, kann kaum noch einer genau beschreiben. Was bleibt ist die Erinnerung an die kollektive Ekstase eines ganzen Volkes, das für einen kleinen, kostbaren Moment so einig war wie nie zuvor.

Es läuft die 116. Spielminute im WM-Finale 2010. Bis zu diesem Zeitpunkt haben sich Spanier und Holländer, gleich den Kriegen in Spanisch-Flandern vier Jahrhundert zuvor, bis aufs Blut bekämpft. Dem schwerelosen tiki taka der Iberer hatten die Niederländer nur Kraft entgegenzusetzen. Schon nach knapp einer halben Stunde Spielzeit prüfte Nigel de Jong per Kungfu-Tritt (der Jackie Chan zur Ehre gereicht hätte) die Bruchfestigkeit von Xabi Alonsos Brustkorb. Das Fußballkultur-Magazin 11freunde soll es später einmal das "übelste Foul der WM-Geschichte" nennen. Doch der Schiedsrichter (klar, ein Engländer, sagen die Spanier) schien sich mehr über die Proteste der Spanier zu wundern, als über den spontanen Wechsel der Sportart, und beließ es bei einer Verwarnung. Von Howard Webb - das war von diesem Moment an einem jeden Spanier klar, von A Coruña bis Málaga, von Bilbao bis Sevilla, von Madrid bis Barcelona - würde es keine Geschenke geben. Gibraltar war schließlich immer noch Gibraltar.

Spanien über die gesamte Spielzeit das bessere Team

Ja, Spanien hatte besser gespielt in den knapp zwei Stunden zuvor. Man könnte auch sagen: Spanien hatte Fußball gespielt, wenn auch nicht so zwingend wie noch vier Tage zuvor gegen die Deutschen. Und die Holländer? Die schienen von der Erinnerung der Vergangenheit gelähmt. Und vergaßen darüber ihre Identität. Zweimal hatten ihre Altvorderen das gelobte Land eines jeden Fußballers erreicht - zweimal waren sie brutal aus dem Paradies vertrieben worden. Ein drittes Mal, so hatten sie sich vor dem gemeinsamen Abenteuer am Kap gelobt, würde das nicht passieren.

Und war der Rahmen nicht geradezu perfekt, um dem Fußball-Gott endlich ein Schnippchen zu schlagen? Immerhin mussten sie nicht, wie 1974 und 1978, gegen den jeweiligen Gastgeber des Turniers ran. Vielmehr mutete der geographische Rahmen, Südafrika, wie ein schwacher Widerhall einstiger nationaler Größe an. Holländer, unter anderen, hatten dieses Land nach den Kriegen gegen die Spanier im 16. und 17. Jahrhundert in guter Hoffnung besiedelt und zum Nachteil der indigenen Ethnien, wie den San, "kulturisiert". Später wurden die Eroberer selbst vertrieben (Howard Webbs Vorahnen könnten davon berichten), doch das ist schon wieder eine andere Geschichte.

Die Holländer berfanden sich also nicht in terra incognita, als sie an jenem 11. Juli 2010 die Spanische Armada zur entscheidenden Schlacht herausforderten. Und wer weiß - vielleicht wäre ihre von Anfang an destruktive, abwartende (Spanier würden sagen: ängstliche) Strategie aufgegangen, vielleicht hätten sie das Schicksal zu ihren Gunsten drehen können. Zweimal waren sie zuvor in einem WM-Finale die eigentlich bessere Mannschaft gewesen - zweimal konnten sie diese Überlegenheit nicht zum finalen Triumph nutzen. Sollte es an diesem Abend womöglich genau andersrum verlaufen?

Robben wird zur tragischen Figur

Der, der die affirmative Antwort auf diese Frage auf seinen Lippen hatte, vergaß (leider, aus Sicht der Brabanter und Limburger, der Friesen und Drenther), sie auch auszusprechen. Wie oft mag Arjen Robben in seinem Fußballerleben allein auf einen Torwart zugelaufen sein? Ein Dutzend Mal? Öfter? Seltener? Egal, wie oft: Dieses eine Mal, an jenem Sommerabend von Johannesburg, hätte er die Gunst der Stunde nutzen müssen. Oder war es schon vielmehr die Gunst eines ganzen Fußballer-Lebens?

Robben wird als tragische Figur dieses 19. WM-Finales in die Geschichte eingehen. Denn die Szene aus der 83. Minute hatte ihn abermals zum Protagonisten. Gut zwanzig Minuten nach seinem tete-a-tete mit dem Heiligen Iker, von dessen großem Zeh sein Schuss eben nicht ins Netz sondern neben das Tor geflogen war, war Robben erneut durchgebrochen. Weder Puyol noch Piqué kriegten ihn mehr zu fassen, konnten am Ende sogar froh sein, dass der Holländer Puyols riskanten Klärungsversuch nicht dankend annahm. Der Kapitän der Spanier gab später zu: "Wenn Robben sich fallen lässt, gibt es Rot für mich und Elfmeter." Doch Robben blieb standhaft, musste sich aber den Ball am Ende von Casillas abnehmen lassen. Später wird irgendjemand mal Robben dafür loben, den Elfmeter nicht geschunden zu haben. Doch damals hatte die Geschichte kein Happy-End für ihn vorgesehen.

Eine Sekunde löscht Jahrzehnte des Frusts aus

Womit wir wieder in der 116. Minute wären. Nachdem die Holländer zweimal in Halbzeit 2 die ausgestreckte Hand der Glücksgöttin Fortuna ausgeschlagen haben, schleppt sich das Spiel immer mühsamer in Richtung Elfmeterschießen. Doch dann raffen sich die elf ganz in blau gekleideten Spanier noch mal auf. In Blau mussten sie spielen, weil die Holländer in diesem Finale Heimrecht hatten, und natürlich ihr Orange als Trikotfarbe wählten. La furia roja (die Rote Bestie) musste auf ihre chromatische Visitenkarte verzichten. Blau statt rot.

Rot wie das Blut, dass über Luis Enriques Gesicht strömte, als die Spanier, sechzehn Jahre zuvor, erst von Tassotti (per Ellbogencheck gegen den späteren Nationaltrainer), dann von Roberto Baggio (per Tor in der 88. Minute) ausgeknockt worden waren. Rot wie die blutunterlaufenen Augen einer vor Zorn bebenden Nation als acht Jahre später, 2002, ein ägyptischer Unparteiische seine ganz eigene WM-Geschichte schrieb. Rot wie das Symbol des Wartens. Denn noch immer war die Ampel nicht umgesprungen. Noch immer mussten 42 Millionen Spanier fingernägelkauend oder pipaschalenspuckend ausharren. Rot.

Nur noch Freude und Ekstase: Iniesta nach seinem entscheidenden Tor im WM-Finale 2010
Nur noch Freude und Ekstase: Iniesta nach seinem entscheidenden Tor im WM-Finale 2010 / Doug Pensinger/Getty Images

Ein Land findet für einen Moment zu sich selbst

Iniesta selbst leitet seinen Weg in die Ewigkeit mit einem Hackentrick Marke des Hauses ein. Der Ball kommt über Torres und dessen verunglückte Flanke zu Cesc Fàbregas. Und der, fast ein wenig Pirlo-mäßig (sie wissen schon, auf Grosso, vier Jahre zuvor!) legt kurz ab auf Iniesta. Und in diesem Moment springt die Ampel, vor der die Spanier jahrzehntelang gewartet haben, um. Von Rot auf Grün. Grün wie die Hoffnung, die sie in all diesen Jahren trotz aller Rückschläge nie verloren hatten. Grün, wie das Stück Rasen, das zwischen Iniesta, dem verzweifelt heranstürmenden van der Vaart und Stekelenburg liegt. Grün. Grün. Grün. Und dann der Schuss. Und dann ein Geräusch, als ob ein ganzes Land, als ob seine Menschen, seine Tiere, seine Bäume und Pflanzen, seine Flüsse und Seen, seine Straßen und Plätze, ihre Freude herausschreien. Spanien war in diesem Moment eins. Es gab keine Kataloniens und keine Baskenländer. Es gab keine Madrilenen und keine Barcelonesen. Es gab nur den Fußball. Und das Glück. Und Iniesta. Und den wehmütigen Blick zurück auf die Bilder eines sich verflüchtigenden Traumes.