Frauen-WM 2023 - Lena Oberdorf im Porträt: Längst über den Talent-Status hinaus

Aus dem Deutschland-Team nicht mehr wegzudenken: Lena Oberdorf
Aus dem Deutschland-Team nicht mehr wegzudenken: Lena Oberdorf / Sebastian Widmann/GettyImages
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2019 wurde Lena Oberdorf mit nur 17 Jahren, 5 Monaten und 20 Tagen zu der jüngsten deutschen Spielerin bei einer WM in der Geschichte. Damit löste sie als Rekordhalterin die legendäre Birgit Prinz ab. Spätestens dann war klar, wie groß Oberdorfs Talent ist. Vier Jahre später ist sie längst über diesen Status hinaus und hat sich sowohl bei Wolfsburg als auch in der Nationalmannschaft etabliert.

Rolle und Position

Oberdorf hat in ihrer Karriere schon fast überall gespielt, ob als Stürmerin, Nummer 10, defensive Mittelfeldspielerin oder Innenverteidigerin. Allein das zeugt von ihren breit gefächerten Qualitäten, die sie auf jeder Ecke des Platzes ausspielen kann. Beim VfL Wolfsburg kommt sie aber als Sechserin zum Zug, wo sie zusammen mit der zweiten Lena im Bunde, Lena Lattwein, die Fäden im Mittelfeld zieht.

Sowohl in Wolfsburg als auch bei dem Nationalteam hat Oberdorf auch schon in der Innenverteidigung gespielt. Die Idee dahinter ist logisch, denn Oberdorf ist eine "Verteidigerin vor der Verteidigung": Mit ihren Grätschen, klugen Laufwegen und gewonnenen Zweikämpfen entlastet die 21-Jährige die Viererkette hinter sich sehr. Daher ist es kein Wunder, dass sie es auch als Verteidigerin nicht schlecht machte - dann fehlte aber die Stabilität im defensiven Mittelfeld.

Oberdorf wird auch gerne als "Staubsauger" bezeichnet, denn sie sammelt viele Bälle ein. Wie wichtig sie ist, bemerkt man oft erst, wenn sie nicht da ist. Dann brennt es nämlich an vielen Ecken. Oberdorf ist sich nicht zu schade für die dreckige Arbeit und gibt den anderen Mittelfeldspielerinnen, besonders Lina Magull, den nötigen Freiraum. Umso wichtiger wäre es für das DFB-Team, dass sie zur WM komplett fit ist.

Karriere

Oberdorf, geboren in Gevelsberg im Ruhrgebiet, spielte bis zum Alter von 16 Jahren in Jungenmannschaften und wechselte erst 2018 in eine Frauenmannschaft, zur SGS Essen. Das lange Spielen mit und gegen Jungen nennt sie heute auch als Hauptgrund für ihre Durchsetzungsfähigkeit und Robustheit auf dem Platz.

Lena Oberdorf
Oberdorf im Essen-Trikot - im Pokalspiel gegen ihren zukünftigen Klub Wolfsburg / Lars Baron/GettyImages

Bei Essen nahm ihre Karriere sehr schnell Fahrt auf, sie war von Beginn an Stammspielerin und schoss als Mittelfeldspielerin in 16 Spielen neun Tore. Der Lohn war die Berufung in die Nationalmannschaft, und schon wenige Monate nach ihrem Debüt war sie bei der WM dabei. In demselben Jahr erhielt sie auch die Fritz-Walter-Medaille in Gold, Martina Voss-Tecklenburg lobte ihre Wissbegierde und erklärte, sie wirke trotz ihrer 18 Jahre bereits sehr routiniert. 

Schnell war klar, dass Oberdorf bald die SGS verlassen würde, und Wolfsburg holte sie 2020 an den Mittellandkanal. Hauptkonkurrent des VfL war laut Oberdorf der FC Bayern München, aber das Interesse sei erst relativ spät gekommen. Der Schritt nach Wolfsburg war im Nachhinein der richtige, Oberdorf wurde schnell zu einer festen Größe im Team und kam sowohl unter Stroots Vorgänger Lerch als auch unter dem jetzigen Trainer viel zum Einsatz. An den Wolfsburger Titeln der letzten drei Jahren (drei DFB-Pokalsiege und eine Meisterschaft) hat sie maßgeblichen Anteil. 

Ihr aktueller Vertrag in Wolfsburg läuft noch bis 2025, bei anderen Vereinen ist Oberdorf heiß begehrt und die wertvollste Spielerin der Bundesliga. Unter jedem ihrer Posts finden sich zahlreiche "Come to Chelsea / Arsenal / Barcelona"-Kommentare, auch Gerüchte zu Real Madrid musste sie schon dementieren. Oberdorf betont aber immer wieder, dass sie sich in Wolfsburg sehr wohlfühlt und dort eine Ära prägen möchte. 

Stärken

Was genau macht Oberdorf so begehrt? Martina Voss-Tecklenburg sagte 2019: "Lena hat eine tolle Spielübersicht, ist auf mehreren Positionen einsetzbar und bringt neben ihrer guten Physis auch eine gute Mentalität und viel Mut mit." Diese Beschreibung trifft es auch heute noch gut.

Oberdorfs Spielweise ist es stark anzumerken, dass sie früher auch oft im offensiven Mittelfeld gespielt hat. Sie hat ein sehr gutes Gespür für Laufwege und spielt viele Schlüsselpässe. Gerade in dem Bereich hat sie große Fortschritte gemacht: Während Oberdorf sich früher noch auf das reine Verteidigen konzentriert hat, gelingt es ihr immer besser, das Spiel zu gestalten.

Längst haben das auch die Gegner erkannt. Viele Teams versuchen, sie aus dem Spiel zu nehmen, und wenden eine Spielerin nur für diese Aufgabe auf. Wenn das gelang, hatte das DFB-Team oft Schwierigkeiten. Tore schießen kann Oberdorf auch noch, ob mit rechts, links oder mit dem Kopf - und ist daher bei Standards wichtig für das DFB-Team.

Oberdorfs größte Stärken liegen aber weiterhin in ihrer Defensivarbeit: Sie ist mit ihrer Physis ein echtes Zweikampfmonster und weiß, wo es brennt. Ihre bemerkenswerteste Qualität ist aber vermutlich die Schnelligkeit, mit der Oberdorf konstant gute Entscheidungen trifft. Sie hat einen guten Überblick über den Platz und ist in der Lage, den Ball schnell weiterzugeben oder auch selbst durch das Mittelfeld zu treiben. Das zeigen auch ihre exzellenten Statistiken:

Schwächen

All das zeigt, das Oberdorf eine sehr komplette Spielerin ist. Ihre Souveränität und routinierte Zweikampfführung lassen oft vergessen, dass sie erst 21 Jahre jung ist. Manchmal fällt sie allerdings mit ungeschickten oder ungestümen Abwehraktionen auf, etwa einem Laufduell, das sie nicht richtig eingeschätzt hat.

Oberdorf neigt außerdem dazu, viele gelbe Karten zu kassieren - unter den Fans inzwischen ein Running Gag. Oft sind diese ein Resultat eines wichtigen taktischen Fouls, manchmal könnte sie es sich aber auch sparen. Das weiß Oberdorf aber auch, und diese Saison hat sie bei Wolfsburg bereits deutlich weniger Karten bekommen und klügere Fouls gespielt. Die meiste Luft nach oben hat sie vielleicht noch bei der Spielgestaltung, aber das ist Kritik auf hohem Niveau.

Zusammengefasst ist Lena Oberdorf, das "Jahrhunderttalent des deutschen Fußballs", eigentlich kein wirkliches Talent mehr, was vielleicht das größte Kompliment ist, das man ihr machen kann. Mit ihrer Erfahrung in der Nationalmannschaft und auf Vereinsebene auf dem höchsten Level ist sie trotz ihrer 21 Jahre keine junge Hoffnung mehr, sondern auf dem besten Weg, eine prägende Führungsspielerin für die nächsten Jahre zu werden.

Und das nicht nur auf dem Platz: Oberdorf hat bereits gezeigt, dass sie sich nicht scheut, wichtige Themen anzusprechen. Dass sie bei der WM 2027, die sogar teilweise in Deutschland stattfinden könnte, in die erste Reihe der Führungsspielerinnen aufrückt, scheint schon so gut wie ausgemacht. Vielleicht auch schon früher, als erwartet - es wäre nicht das erste Mal in ihrer Karriere.


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