Wir brauchen Eier - Warum dem FC Bayern ein bisschen Olli Kahn gut täte
Von Oliver Helbig

Torwart-Legende Oliver Kahn stand von 1994 bis 2008 zwischen den Pfosten des FC Bayern München, absolvierte unglaubliche 632 Pflichtspiele für den deutschen Rekordmeister und gewann dabei unter anderem auch acht deutsche Meisterschaften, sechs DFB-Pokale und einen Champions-League-Titel.
Doch um es gleich vorweg zu sagen: Eigentlich geht es in diesem Kommentar nicht um Oliver Kahn als Spieler oder Persönlichkeit. Vielmehr soll eine legendäre Aussage der Torwart-Ikone im Mittelpunkt dieses Kommentars stehen.
Nach einer Niederlage in einem Punktspiel gegen den FC Schalke 04 im November 2003 wurde Kahn nach Abpfiff von Reporter Tom Bartels interviewt und gefragt, woran es gelegen habe, dass die Münchner gegen die Knappen den Kürzeren zogen und Kahn begründete trocken im Nachgang: "Eier, wir brauchen Eier!"
Was Kahn damit sagen wollte: Den Bayern fehlte Mut und Kampfgeist. Und genau dieser eine Satz mit all seiner Bedeutung würde dem FC Bayern auch heute in verschiedener Hinsicht gut zu Gesicht stehen. Vor allem aber, was den eigenen Nachwuchs angeht.
"Eier, wir brauchen Eier!"
- Oliver Kahn
Das Beispiel Barça zeigt, wie es gehen kann
Wenn man sich Spiele des FC Barcelona anschaut, kommt man oft aus dem Zungeschnalzen gar nicht raus. Grund dafür ist derzeit vor allem Lamine Yamal: Das erst 17-jährige Wunderkind der Katalanen versetzt Fußballfans auf der ganzen Welt in Staunen und vollbringt Unglaubliches auf dem Platz - und das nicht erst seit letzten Mittwoch. Lamine Yamal kann schon beeindruckende Zahlen vorweisen, bevor er überhaupt seine Volljährigkeit erreicht hat.
Der Champions-League-Einsatz im Halbfinal-Hinspiel gegen Inter Mailand am Mittwochabend war für das Ausnahmetalent bereits das 100. Pflichtspiel für die Profis von Barcelona. In dieser Zeit erzielte Yamal 22 Tore und gab 33 Vorlagen. Aus der Startelf von Hansi Flick ist Yamal schon lange nicht mehr wegzudenken - ebenso wenig wie aus der spanischen Nationalmannschaft, mit der Yamal erst im vergangenen Jahr in Deutschland Europameister wurde. Als Stammspieler, versteht sich. 19 Länderspiele und vier Tore stehen in der Bilanz des katalanischen Wunderkindes. Aktueller Marktwert: 180 Millionen Euro - Tendenz steigend.
Aber Yamal ist keine Ausnahme. Vielmehr scheint es, als würde Barça reihenweise solche Youngsters hervorbringen. Ebenso in der Abwehr ist mit Pau Cubarsi ein 18-jähriges Ausnahmetalent nicht mehr wegzudenken. Auch der hochveranlagte Innenverteidiger kommt bereits auf 75 Pflichtspieleinsätze und ist wie Yamal mittlerweile fester Bestandteil der spanischen Nationalmannschaft.
Selbst Gavi wurde einst als 17-jähriges Wunderkind ins kalte Wasser geworfen und es scheint fast so, als würde der Mittelfeldspieler schon zum alten Eisen der Katalanen gehören - doch nach 147 Pflichtspielen (und einer langen Verletzungspause) für Barça steht auch bei Gavi erst ein Alter von 20 Jahren auf dem Ausweis. Man könnte diese Geschichte fast endlos weiterspinnen, über Pedri, der mit 22 Jahren bereits 196 Pflichtspiele für Barça absolviert hat, oder zurück bis zu Messi, Puyol und Co.
Barça beweist immer wieder Eier zu eigenen Talenten und wirft diese mutig ins Haifischbecken Profifußball - wofür der katalanische Traditionsverein regelmäßig auch belohnt wird und neben unglaublich talentierten Profis auch eine spielerische DNA sowie ein hohes Maß an Identifikation integriert. Als Weltverein würde ich den FC Barcelona sogar noch über den FC Bayern stellen und das zeigt, dass man auch als großer Verein den Mut haben kann, mit dem eigenen Nachwuchs zu experimentieren.
Sind die Eier im Ausland größer?
Auch andere Vereine wie Ajax Amsterdam scheuen dieses Risiko nicht und haben Matthijs de Ligt sogar schon mit 17 Jahren zum Mannschaftskapitän gemacht. Mittelfeldspieler Frenkie de Jong debütierte mit 18 und wurde zum Star. Es gibt zahlreiche weitere Beispiele in der Ajax-Historie. Natürlich kann Ajax international nicht mit Bayern oder Barça mithalten, aber national ist der Druck nicht wesentlich geringer als bei den beiden Giganten des Weltfußballs.
Auch Sporting Lissabon hat einen Cristiano Ronaldo einst als 17-Jährigen in das Schaufenster gestellt und die heutige Fußballlegende wechselte mit 18 zu Manchester United, wo CR7 Weltgeschichte schrieb.
Aktuell in Argentinien gibt es mit Franco Mastantuono ein weiteres 17-jähirges Ausnahmetalent, dem das Vertrauen bei River Plate geschenkt wird und bereits 55 Pflichtspielen vorweisen kann. Zwölf Scorerpunkte sind der bisherige Dank des Wunderknaben.
Florian Wirtz bei Bayer 04 Leverkusen oder früher Mario Götze beim BVB sind entsprechende deutsche Beispiele, aber eben gewissermaßen auch Ausnahmebeispiele auf höchstem Niveau. Bei Schalke 04 debütierten einst neben Julian Draxler auch andere Jungstars wie Mesut Özil oder Leroy Sane mit 17 Jahren und bewiesen, wozu es führen kann, wenn man die Eier hat, auf solche Talente zu setzen. Auch Manuel Neuer war erst 20, als er die deutsche Fußballwelt einnahm.
In dieser Regelmäßigkeit wie in Barcelona hat aber in Deutschland scheinbar kein anderer Spitzenklub mehr den Mut, so auf den eigenen Nachwuchs zu setzen. Leider auch die Bayern nicht.
Eier für den eigenen Nachwuchs - Mut zu Jugend forscht
Der FC Bayern hat im August 2017 einen Campus eröffnet, der die Münchner viel Geld gekostet hat und mit dem man es dem FC Barcelona irgendwie gleichtun wollte, aber das Ergebnis nach Jahren der Jugendarbeit ist ernüchternd. Dabei hätten die Bayern durchaus das eine oder andere Talent gehabt, das man hätte größer machen können. Warum hat man beispielsweise in der Vergangenheit nicht auf einen Kenan Yildiz gesetzt und die Eier gehabt, ihn zu bringen?
Auch heute steht beispielsweise mit Lennart Karl ein unglaublich talentierter 17-Jähriger im Verein, der in seiner Altersklasse alles kurz und klein schießt. Für die U17 des FC Bayern erzielte Karl in 17 Pflichtspielen sagenhafte 27 Tore und legte seinen Mitspielern zehn weitere Treffer auf - und das als Mittelfeldspieler! Auch in der U19 erzielte Karl in bisher sieben Pflichtspielen fünf Tore. Warum hat man beim FC Bayern nicht den Mut, wie bei Barça mit Yamal, Gavi, Cubarsi und Co. solchen Ausnahmetalenten das Vertrauen zu schenken?
Mit dem 16-jährigen Wisdom Mike hat die U19 der Münchner zudem ein weiteres Offensiv-Juwel in ihren Reihen: 13 Tore und sechs Vorlagen in elf Pflichtspielen für die U17 der Bayern und sechs Torbeteiligungen in neun Pflichtspielen für die U19, davon vier Tore in fünf Ligaspielen. Derzeit fällt der Linksaußen verletzungsbedingt aus, doch auch er gilt als eines der größten Talente des Landes und wäre womöglich prädestiniert dafür, wie seine Talentekollegen im Ausland früh in das Haifischbecken Profifußball geworfen zu werden.
Warum lässt man die Jungen nicht spielen?
Warum die große Angst, junge Ausnahmespieler zu verheizen, und warum ist besteht diese Angst im Ausland offenbar weniger? Warum kann man junge Talente nicht in unbedeutenderen Spielen oder bei klaren Spielständen bereits regelmäßig heranführen? Warum lässt man sie nicht einfach spielen?
Als talentierter Nachwuchsspieler überlegt man es sich heute offenbar schon zweimal, ob man ein Angebot des Rekordmeisters annimmt, weil die Durchlässigkeit nach oben einfach nicht attraktiv genug ist. Welchen Plan verfolgt man eigentlich mit dem Campus wenn so wenig für die Profis hängen bleibt? Auch die Münchner Fans wünschen sich, dass Spieler wie Aleksandar Pavlovic regelmäßiger ans Tageslicht gebracht werden.
Also lieber FC Bayern, etwas mehr Eier bitte.
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