Statt dem Fußball: Was kann denn eigentlich der Journalismus aus dieser Zeit lernen?

FC Bayern Muenchen v Borussia Dortmund - Bundesliga
FC Bayern Muenchen v Borussia Dortmund - Bundesliga / Boris Streubel/Getty Images
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Immer wieder wird die Frage gestellt, was der Fußball lernen kann. Etwa während der Handball-WM 2019, die in Dänemark und Deutschland ausgetragen wurde. Oder während der Corona-Pandemie, die einige der 36 Profi-Klubs in eine existenzbedrohliche Lage bringt. Doch kann nicht auch der (Fußball-)Journalismus etwas lernen? Kann er sich loslösen von Transfergerüchten, die spektakuläre Namen und Ablösesummen beinhalten? Kann er sich künftig auf das Spiel konzentrieren, das so simpel erscheint, aber doch kompliziert ist?

Am vierten Juli 1990 brandmarkte sich der ehemalige englische Fußballer Gary Lineker mit einer Aussage, die bis zur Weltmeisterschaft 2018 kaum von der Hand zu weisen war: "Fußball ist ein einfaches Spiel", so der heutige TV-Experte, "22 Männer jagen 90 Minuten lang einem Ball nach, und am Ende gewinnen die Deutschen." Gesagt hatte Lineker diesen Satz nach dem WM-Halbfinale 1990, in dem England im Elfmeterschießen an der DFB-Elf scheiterte. Lineker war es, der die Three Lions mit dem Ausgleichstor in der 80. Minute vor dem vorzeitigen Aus bewahrte und den ersten Elfmeter verwandelte.

Oberflächlich betrachtet hat Lineker recht. Ein Fußballspiel besteht aus 22 Männern oder Frauen, die 90 bis 120 Minuten lang damit beschäftigt sind, den Ball zu erobern, zum Mitspieler weiterzuleiten und zum Torerfolg zu kommen. Zur Not müssen sie den Ball auch wieder zurückerobern, wenn er aus welchen Gründen auch immer verloren geht.

Doch der Teufel steckt im Detail. Über Generationen durchlebt der Fußball eine Wandlung, Spiele und Spieler von vor 30 Jahren sind kaum mit denen aus der heutigen Zeit zu vergleichen. Es werden mit immer tiefergehenden Mikrodaten gearbeitet, die Analysen werden immer tiefgründiger, die Spielformen im Training komplexer. Von vielen Trainern wird Fußball fast schon wie eine Wissenschaft verstanden, in der es darum geht, neue Erkenntnisse zu gewinnen. Nicht, um etwas über die Welt und unser Leben zu erfahren, sondern um Schwachstellen beim Gegner oder sich selbst auszumachen.

Worauf sich der Journalismus konzentriert

Im Vordergrund steht jedoch das Bling-Bling. Fußballspieler verdienen viel Geld - zumindest, wenn sie ganz oben angekommen sind. Die Gehaltsunterschiede von der Regionalliga bis zur Bundesliga, selbst von der 2. bis zur 1. Liga sind gravierend. Wer es zum FC Bayern oder Real Madrid schafft, hat nach einer Saison praktisch ausgesorgt - beim SV Sandhausen oder Alemannia Aachen kann man davon nur träumen.

Die Spieler sind oberflächlicher geworden. Sie präsentieren ihre Luxusgüter in den sozialen Medien, lassen Star-Friseure vor den Spielen einfliegen, machen Instagram-Stories mit dem WM-Pokal, feiern in Zeiten der Corona-Krise trotz der Ausgangsbeschränkungen Partys oder lassen sich ein vergoldetes Steak servieren. Genau darauf stürzen sich einige der reichweitenstärksten Medien, die sich mit Fußball auseinandersetzen.

Das Spiel an sich rückt immer weiter in den Hintergrund
Das Spiel an sich rückt immer weiter in den Hintergrund / Michael Regan/Getty Images

Es werden Debatten darüber geführt, ob ein vergoldetes Steak moralisch vertretbar ist, ob es richtig ist, wenn sich Spieler am Abend vor einem Champions-League-Spiel die Haare schön machen, es wird darüber berichtet, dass Manuel Neuer nicht in Adidas gekleidet zu offiziellen Terminen erscheint oder Kingsley Coman in seinem McLaren und nicht wie vorgeschrieben im Audi an der Säbener Straße vorfährt. Einige Pressevertreter tragen diese Entwicklung mit, sie stellen Oberflächlichkeiten in den Vordergrund - und dann wird häufig in Erinnerungen geschwellt, dass früher doch alles anders und besser gewesen sei.

Auch abseits davon geht es nicht wirklich um das Spiel. Es werden Sündenböcke gesucht, wie Trainer, Torhüter oder Stürmer, wochenlang steht im Vordergund, welcher Spieler auf der Bank sitzt und ob er deshalb nicht vielleicht einen Wechsel anstreben könnte - wenn sich dann noch die Lebenspartnerin einschaltet, wird auch darüber eifrig diskutiert.

Der Transferwahn nimmt überhand

Am schlimmsten sind vermutlich aber die Transfergerüchte. Die Transferfenster im Sommer und Winter sind aufregend. Jeder Fan hofft darauf, dass seine Lieblingsmannschaft verstärkt wird und in der neuen Saison in eine höhere Tabellenregion vorstoßen oder um Titel mitspielen kann. Je teurer desto besser, spektakulärer, vielversprechender. Und vielleicht kommt auch noch ein zweiter Star, oder ein dritter, vierter. Wer weiß?

Transfers sind Teil des Geschäfts und aufgrund der immer höheren Einnahmen von Verbänden und Klubs steigen automatisch die Ablöse- und Gehaltssummen. Aber der Fußballjournalismus redet zu häufig um den heißen Brei herum. Er beteiligt sich an Spekulationen, teilt ungeprüft die wildesten Gerüchte, mit denen die Klubverantwortlichen über Wochen hinweg konfrontiert werden. Was wird denn jetzt aus Jadon Sancho? Oder Leroy Sané, Timo Werner, Dayot Upamecano, Jude Bellingham. Thomas Meunier? Wie will der FC Barcelona denn nun die angeblich geplanten Transfers von Lautaro Martinez und Neymar stemmen?

Von Artikeln wie diesen kann 90min sich nicht freisprechen. Als Aggregator sind wir darauf angewiesen, was von den großen Medienhäusern aus aller Welt berichtet wird. Aber wir wollen nicht nur auf dieser Welle mitreiten, wir wollen einen Blick über den Tellerrand hinaus wagen und Gerüchte hinterfragen, sie kommentieren und einordnen, unsere Beiträge zum Diskurs liefern und einen kritischen Blick auf den Status Quo des Fußballs wagen.

Wieso nicht den Fokus auf das Spiel richten?

Generell gesprochen wäre es aber wünschenswert, wenn es in Zukunft hauptsächlich wieder um eines geht: Das Spiel an sich. Für viele erscheint ein taktischer Blick auf ein Fußballspiel womöglich langweilig, doch sobald man die Grundlagen versteht und sich mit immer mehr Aspekten auseinandersetzt, erkennt man die Komplexität des Spiels und taucht immer tiefer in die Materie ein.

Es geht nicht nur um die falsche Aufstellung, Stellungsfehler, einen ungenauen Pass oder fehlende Mentalität. Was ist mit Anlaufwinkeln, einem Pressing-Impuls, welche Räume in welchem Moment von welchem Spieler besetzt werden? Oder was ist mit der Wahrnehmung eines Spielers, der schon dann weiß, wo er den Ball hinspielen will, bevor er diesen überhaupt empfängt, weil er das Spielfeld im Vorhinein überblickt und einerseits weiß, wo seine Mitspieler stehen und andererseits aus den Trainingsabläufen weiß, wohin sie laufen werden, sobald er den Ball empfangen hat?

Zwei Mitbegründer des modernen Fußballs: Pep Guardiola und Thomas Tuchel (v.l.)
Zwei Mitbegründer des modernen Fußballs: Pep Guardiola und Thomas Tuchel (v.l.) / Boris Streubel/Getty Images

Es gibt so viele Dinge, die allen voran abseits des Balls ablaufen und die wirklich ausmachen, wie gut ein Spieler oder eine Mannschaft funktioniert. Die Augen der Beobachter müssen damit aufhören, den Ball zu jagen, genau wie die Spieler längst damit aufgehört haben. Es wäre für Fans, Spieler und Trainer angenehmer, wenn in Interviews und Pressekonferenzen über taktische Elemente, über das Spiel an sich gesprochen würde. Und nicht darüber, wann Sané kommt, wann Sancho geht oder warum Mario Götze auf der Bank sitzt.

Die seit Jahren vorherrschende Berichterstattung macht den Fußball unattraktiver als er ist. Doch es gilt natürlich zunächst einmal, sich das Wissen anzueignen. Empfehlenswert ist der Taktik-Blog spielverlagerung.de, auf dem unter anderem Rene Maric, heutiger Co-Trainer von Borussia Mönchengladbach, sein Fachwissen geteilt hat. Mitbegründer von spielverlagerung ist Tobias Escher, der erst kürzlich ein neues Buch veröffentlicht hat und als freier Journalist zahlreiche Spiele analysiert. Wenn man sich erst einmal mit dem Gegenstand auseinandersetzt, macht es mehr Spaß, über das Spiel zu reden. Denn es geht wahrlich um mehr als nur um 22 Männer, einem Ball und 90 Minuten.