Sevillas europäischer Triumph: Ein Abend voller Helden

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Was war das? Ein Fußballspiel, ein Europacup - sorry, Europa League-Finale? Oder ein Theaterstück, dramatisch und weit, tief und nah, menschlich und barbarisch, große griechische Tragödie, in fünf Akten wenn man denn so will? Ja, was genau war das?

Es war vor allem ein Beweis dafür - falls es überhaupt eines bedurft hätte - dass dieses Spiel so viel mehr ist, als zweiundzwanzig Männer, die auf einem abgesteckten Feld hinter einem Ball herrennen und versuchen, diesen in eines der beiden Tore zu bugsieren.

Zwei Orchester - eine Fußballsymphonie

Die Kunst dieses Spiels, die sich darin offenbart, genau diese Rahmenbedingungen zu einer Bühne werden zu lassen, in der der Solist vielleicht herausragt, aber am Ende mit seinem begleitenden Orchester zu einer rauschhaft wirkenden Einheit verschmilzt - das ist die Kraft, die dieses Spiel letztlich zum erfolgreichsten und meistverfolgten der Menschheitsgeschichte gemacht hat. Und jedes Team tut es mit den ihm am besten scheinenden Waffen - oder soll man sagen: Instrumenten? Das eine über den Ballbesitz, das andere über den schnellen Umschaltmoment und anschließenden Konter. Im besten Fall werden in einem Spiel beide Mannschaften, so konträr ihre Systeme auch sein mögen, von ihrer jeweiligen Muse geküsst, so wie gestern Abend in Köln, und dem geladenen Zuschauer bleibt nur noch die gänsehauterregende Wonne, solch einem Spektakel beiwohnen zu können.

Zwei Tore nach elf Minuten. Von daher konnte es schon fast kein Finale sein. Finals enden nämlich immer 1:0 und sind langweilig. So kannte ich das aus den Achtzigern. Ja, werft nur mal einen Blick drauf, auf die einschlägige Statistik. 1:0, das war über ein halbes Jahrzehnt hinweg das Standardergebnis. Zumindest im Europacup der Landesmeister (heute Champions League). Und deren diesjähriges Finale kommt ja erst am Sonntag. Aber trotzdem. So bin ich fußballerisch kultiviert worden. Finale im EC1 (wie unser deutscher Nachbarstaat ihn nannte), das stattfindet - Finale, das 1:0 ausgeht.

Wobei das in den letzten Jahren (und vielleicht auch schon in den letzten Jahrzehnten) erheblich besser geworden ist. Mit den Toren meine ich. Liverpools 5:4 gegen Alavés im UEFA-Cup-Finale 2001, Liverpools 3:3 nach 0:3 gegen Milan im Champions League-Finale 2005, und danach viele weitere mit mehr als einem Tor.

Aber heute war Europa League. Anno 2020. Und nach 36 Minuten haben beide Teams, die Andalusier aus Spanien und die Lombarden aus Italien, zweimal getroffen. Durch ihre Stars aus dem Ausland. Lukaku, der Belgier, einer der ersten Helden dieses Finals, trifft nach fünf Minuten. La pazza wird verrückt vor Freude. Genau das, was Inter mag - einen frühen Vorsprung verwalten. Doch die Andalusier, durch wiederum ihren Beneluxler, diesmal aus Holland, De Jong, der auch mal eine Zeitlang bei Gladbach war, gleichen aus.

Wurde mit seinem Doppelpack zum Matchwinner: Luuk de Jong
Wurde mit seinem Doppelpack zum Matchwinner: Luuk de Jong / Pool/Getty Images

Und weil der dann gleich nochmal trifft und dabei gefühlt eine halbe Stunde in der Luft steht, ehe er - (ehrlich, Hotte, das hättest du auch nicht besser gemacht!) - den Ball rein köpft. Flanke übrigens von Ever Banega, der jetzt, gegen Ende seiner Karriere, so spielt, wie man es sich in seinen Jugendzeiten immer erhofft hatte. Spätes Glück! Weil also de Jong zum zweiten Mal trifft, sieht Inter auf einmal so alt aus, wie es tatsächlich auch ist -dieses Jahr 112 geworden! Glückwunsch auch noch mal von dieser Stelle! Doch im Fußball misst sich das Alter in anachronistischen Dimensionen. Jedenfalls für traditionsbewusste Fußball-Fans, und auch darum geht es in diesem Spektakel namens Fußball. Dieses conte-risierte Inter ist für mich jedenfalls eines der aktuell attraktivsten Teams in Europa.

Navas führt Sevilla auch zum Europa-League-Titel

Aber Sevilla ist halt Sevilla. Das sind elf, zwölf oder je nach Bedarf dreizehn, vierzehn oder mehr, abgezockte, unter der unbarmherzigen Sonne Andalusiens gegerbte, lederhäutige Killer. Und dieses Wort, so schrecklich es klingen mag, ist genau das, das die Sache trifft. Sie killen dich. Ob früh oder spät, auf kurze oder lange Distanz, sie killen dich. Sie killen dich mit ihrem unbarmherzigen Tiki Taka 2020 re-loaded. Oder einfach nur: fútbol. So wie der weise Boskov schon philosophierte: Fútbol es fútbol. Beim FC Sevilla sieht das im Finale gegen Inter so aus: Der Ball läuft, der Ball zirkuliert, der Ball gleitet durch die Reihen. Und einem jeden in Weiß (wie passend, jetzt wo Real Madrid nicht mehr da ist) ist er ein Freund, der nicht von der Seite weicht.

Navas wurde endgültig zur Sevilla-Legende
Navas wurde endgültig zur Sevilla-Legende / Lars Baron/Getty Images

Jesús Navas, ein weiterer Held. Auch eine verrückte Story, wenn man darüber nachdenkt. Er führte den FC Sevilla zu dessen ersten beiden Erfolgen im internationalen Geschäft, den Siegen im UEFA-Cup 2006 und 2007. Bis 2013 blieb er seinem FC Sevilla treu, ehe er den Sirenengesängen von der britischen Insel erlag und sich beim damals schon mehr als aufstrebenden Manchester City verdingte. Just in jenen vier Jahren, die Jesús Navas in England litt (denn er litt unter Flugangst, was seine Besuche in der Heimat, die er so sehr vermisste, natürlich erschwerte), errang sein Leib-und Seelenverein die Europa League. Nicht einmal, nicht zweimal, sondern dreimal. Und als Navas wieder zurück aus Manchester kam, war der FC Sevilla ein wenig satt geworden.

Doch nach vier Jahren kann man eigentlich wieder Hunger entwickeln. Dachten sich Jose Castro Carmona, Nachfolger des legendären José María del Nido in der Präsidentschaft des Klubs, und Ramón Rodríguez Verdejo, den aber alle nur Monchi nennen. Und verpflichteten im vergangenen Jahr den ehemaligen Nationaltrainer und danach kurzzeitigen Real Madrid-Coach Julen Lopetegui als neuen Übungsleiter. Mit ihm sollte wieder die unter Unai Emery zur Normalität gewordene Kontinuität Einzug halten. Die sechs Trainer in der Ära Post-Emery hielten allesamt kein Jahr in Nervión durch. Und der Baske im Süden des Landes impfte den Jungs, um ihren alten Leader Navas herum, wieder das Sieger-Gen von dazumal ein. Und plötzlich - steht der FC Sevilla wieder im Finale! Dem sechsten (alle fünf zuvor wurden gewonnen) insgesamt. Und führt nach gut einer halben Stunde. Doch Inters Godín, ein Uruguayer, gleicht aus. Noch ein Held. Der wohl kurzlebigste am heutigen Abend.

Lukaku wird zum tragischen Helden

Mitte der zweiten Halbheit wird Lukaku endgültig zum Helden. Aber leider - aus seiner Sicht - zum tragischen. Ein Traum, wie er den Ball annimmt und nach vorne legt, ein Traum, wie er ihn vor dem heranstürmenden Verteidiger nur durch seinen unglaublichen Körper schützt, ein Traum, wie er bei allem dennoch das Tempo halten kann und am Ende frei zum Abschluss kommt - doch ein Alptraum, dass an einem Abend wie diesem dir ein Typ wie Yassine Bono gegenübersteht.

Er hätte zum Matchwinner werden können - und wurde zur tragischen Figur: Romelu Lukaku
Er hätte zum Matchwinner werden können - und wurde zur tragischen Figur: Romelu Lukaku / Pool/Getty Images

Dass ein solches Epos am Ende - fast schon klischeehaft - durch einen Fallrückzieher aus mehr als zehn Metern Torentfernung entschieden wird - tja, geschenkt. Doch auch hier lohnt ein Blick zurück. Wie ihn Lukaku hätte haben müsssen. Denn hätte er sich einmal vorher umgesehen, hätte er vielleicht geahnt, dass dieser Akrobatsschuss von Diego Carlos zwar wunderhübsch anzusehen war, aber halt am Tor vorbeigegangen wäre. Aber ich kenne dieses Gefühl. Als Stürmer hältst du da irgendwie reflexartig den Fuß hin. Schade, Romelu, dir hätte ich es wirklich gegönnt.

Conte als fairer Verlierer

Wie wohl auch sein Trainer. Antonio Conte. Dass der als gebürtiger Süditaliener noch mal eine Schippe emotionsgeladener sein kann, als seine nördlichen Landsleute aus Mailand, schien Schiri Makkelie in der 18. Minute in geordnete Bahnen lenken zu wollen, als er dem Inter-Coach eine Gelbe Karte vor dessen - in diesem Fall nicht corona-geschützte - Nase hielt. Troppo ma non più, Signore Conte. Der Rhythmus an der Seitenlinie war für die kommenden 72 Minuten markiert. Doch dieser Conte ist gerade in der Niederlage, als eben dieses Tor von Diego Carlos/Lukaku auch noch über den Schlusspfiff hinaus Bestand hat, einer der weiteren Helden diese Abends.

Zeigte Größe in der Niederlage: Inter-Coach Antonio Conte
Zeigte Größe in der Niederlage: Inter-Coach Antonio Conte / Soccrates Images/Getty Images

Mit Respekt und Empathie zollt er seinem Amtskollegen, den er umarmt wie einen Freund, sportlichen Respekt, und motiviert auch später einige seiner frustrierten Spieler, der Siegerehrung mit Respekt zu folgen. Auch verlieren will gelernt sein. Irgendwie passte der ganze Rahmen dafür. Es war ein Abend voller Helden, wahrhaftiger und tragischer, und ein Abend, an dem es neben den direkt Beteiligten nur Sieger gab: nicht zuletzt die Zuschauer und alle, die dieses Spiel lieben.