Es geht um die DNA des deutschen Vereinsfußballs - Ein Kommentar

  • Verständnis für die Fan-Proteste
  • Angst vor dem Werteverlust der deutschen Fußballkultur

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In den Stadien der deutschen Profi-Klubs häufen sich die Fanproteste. In den letzten Wochen sind sie zum festen Bestandteil des Spieltags geworden. Von der einen Seite werden sie begrüßt, von der anderen verteufelt. Derzeit spalten sie die Fußballnation Deutschland. Ein Kommentar

Man kann davon ausgehen, dass es an diesem Wochenende mindestens einen Vorfall geben wird, der ein Bundesligaspiel für mehrere Minuten unterbricht. Manchmal kommt es sogar zu mehr als einer Spielunterbrechung. Mal fliegen Schokoladentaler, mal Tennisbälle. Dass ein Tor mit Fahrradschlössern verziert wird, wie gestern in Hamburg, ist in der Ausübung neu, in der Sache aber gleich. Es geht den Fanszenen darum, ihren Protest sichtbar und spürbar für alle zu machen, egal ob vor Ort im Stadion oder zu Hause vor dem Bildschirm. Mittel zum Zweck ist die Störung des Spielbetriebs und ein deutlicher Einschnitt in den sonst so geordneten Ablauf der Bundesligaspiele. Es stellt sich die Frage: Ist diese Form des Protests notwendig? Ich meine ja.

Borussia Dortmund v SC Freiburg - Bundesliga
Borussia Dortmund vs SC Freiburg - Bundesliga / Anadolu/GettyImages

Den Fans, zumindest den meisten, geht es darum, ihrer Empörung über die Abstimmung zur Ermöglichung von Investoren-Deals in Deutschland Gehör zu verschaffen und deutlich zu machen, was sie davon halten. Nämlich nichts oder zumindest nicht wirklich viel. Wenn man sich tiefer damit beschäftigt und sich in die Situation hineinversetzt, dann sind diese Proteste aus Sicht der Fan-Szenen auch durchaus nachvollziehbar. Es geht vor allem um Angst. Angst davor, die Fankultur in ihrer Art und Weise zu verlieren, die größtenteils über viele Jahrzehnte gepflegt und entwickelt wurde. Sie an Köpfe zu verkaufen, die den Fußball und die Geschichte der Vereine in dieser Form nicht in diesem Maße lieben, sondern ihn als Mittel zur Gewinnmaximierung sehen und dafür, scharf gesagt, missbrauchen wollen.

Die Liebe zum Spiel und zum eigenen Verein

Für viele dieser Fans ist Fußball und die Liebe zu ihrem Verein und dessen Geschichte, aber auch zur Geschichte der aktiven Fanszene des jeweiligen Vereins mehr als nur eine Sportart und weit mehr als nur ein Wochenendvergnügen. Für viele dieser Menschen ist es ein großer Teil ihres Lebens. Für viele ist jeder Stadionbesuch mit Erinnerungen verbunden. Erinnerungen wie sie vielleicht als Kind zum ersten Mal mit Papa oder Opa in der Kurve standen und ihre erste Stadionwurst aßen. Sie kennen jeden Stein auf der Tribüne und jeder Aufkleber erzählt eine Geschichte. Es ist nicht nur Teil ihres Lebens, es ist Teil ihrer DNA. Es ist mehr als ein Hobby, es ist eine Art Religion. Das Stadion ein heiliger Tempel. Eine Konstante im Leben, auf die man sich verlassen kann. Zumindest noch. Denn um den Verlust dieser Konstante drehen sich die Proteste. Es ist ein Kampf aus Liebe zu allem, was Fußball ausmacht. Die Liebe zum eigenen Verein. Die Liebe zur eigenen Erinnerung, zur eigenen Geschichte. Aber auch die Liebe zu den Geschichten, die im Laufe der Jahrzehnte geschrieben und erzählt wurden. Wer den Fußball wirklich so liebt wie diese Fans, die Unmengen an Geld und Zeit opfern, um einen Stadionbesuch zu dem zu machen, was er letztlich ist, ist unverzichtbar für diese Sportart und den Fußball, wie wir ihn in Deutschland kennen und lieben. Spätestens seit den Geisterspielen zu Corona-Zeiten sollte das doch klar geworden sein.

Die Fans wollen sich diesen Teil ihrer DNA nicht nehmen lassen. Dieses besondere Gefühl vor den Spielen, wenn man zum Stadion läuft. Die Spannung und die Vorfreude. Die Gemeinschaft und das Schaffen neuer Erinnerungen. Ein Teil davon zu sein, die große Geschichte des Vereins weiterzuschreiben. Die Choreos und Fangesänge. Über die Jahre mitzuerleben, wie Spieler aus der eigenen Jugend zu Vereinslegenden werden und sie dafür Woche für Woche abzufeiern.

Premier League als mahnendes Beispiel

Ehrlich gesagt kann ich diese Angst sehr gut nachvollziehen. Auch ich liebe diesen Sport über alles und auch wenn ich keiner aktiven Fanszene angehöre, spüre ich bei jedem Stadionbesuch die Magie, sein Leben einem Verein zu widmen. Auch ich habe dieses Kribbeln im Bauch, wenn ich ins Stadion gehe. Auch für mich ist es fester Bestandteil und Pflicht im Stadion eine Stadionwurst zu kaufen und auf der Tribüne zu essen. Auch ich bekomme Gänsehaut bei den Fangesängen, den Choreos und Torjubeln. Auch ich habe Angst, dass die Seele und der Charakter unseres Spiels verloren gehen. Auch ich möchte mir keine Zukunft vorstellen, in der ein Stadionbesuch genau diese Gefühle nicht mehr hervorruft. Auch ich möchte mir keine Zukunft vorstellen, in der ich diese Liebe zum Spiel nicht mehr spüre. Jetzt werden vielleicht einige sagen, der spinnt, das passiert doch gar nicht. Dann zeige ich gedanklich mit dem Finger auf die englische Premier League. Natürlich wurde die Liga mit Geld aus Investorendeals überschwemmt und natürlich können die Vereine dort auf dem Transfermarkt in Dimensionen spielen, die für deutsche Verhältnisse unvorstellbar sind. Aber zu welchem Preis? Schaut in die Stadien! In vielen ist die aktive Fanszene und mit ihr die mitreißende Stimmung und Kultur verschwunden. Die Premier League ist gefühlt zu einem Premiumprodukt für Besserverdienende verkommen und dient eher als Touristenmagnet, der Geld in die Kassen spült. Das über das Mutterland des Fußballs sagen zu müssen, über eine Liga, die in meiner Kindheit für ihre Stimmung, ihre Fangesänge, ihre Tradition und ihre Fankultur bekannt war, tut weh. Das wünsche ich mir für die Bundesliga einfach nicht. Dass Spieler aus der Premier League wie Bayern-Neuzugang Eric Dier die Atmosphäre in den Bundesliga-Stadien genießen, weil es sie in dieser Form in England nicht (mehr) gibt, sagt doch wahnsinnig viel über die Entwicklung aus, vor der sich die Fans in Deutschland fürchten.

Protest ja, aber er darf nicht kontraproduktiv sein

Auch für mich gehen Darstellungen wie die der Hannover-Fans in Hamburg mit Martin Kind im Fadenkreuz zu weit und am Ziel vorbei. Sie lenken von der eigentlichen Sache ab und bieten den Kritikern der Proteste eine Steilvorlage, diese noch mehr zu verteufeln. Diese Protestform ist geschmacklos und kontraproduktiv.

Hamburger SV v Hannover 96 - Second Bundesliga
Geschmacklos und kontraproduktiv / Stuart Franklin/GettyImages

Protest darf auch mal weh tun, aber...

Proteste in Form von Tennisbällen oder Schokolade stören mich hingegen überhaupt nicht. Ganz im Gegenteil. Protest darf und muss auch mal weh tun, um die Ernsthaftigkeit des Themas zu unterstreichen. Dazu ist es aber auch notwendig, dass man den Kern seines Protestes und seine Ängste offen kommuniziert und nicht einfach nur stumpf dagegen protestiert. Dazu ist es auch wichtig, diejenigen herauszufiltern, die am Kern der Sache vorbei arbeiten, weil sie einfach nur Spaß am Widerstand haben. Auch das ist nicht zielführend und wird dem Prozess eher schaden als nützen. Wichtig ist auch, dass Kommunikation stattfindet und dass von Seiten der Verantwortlichen die Argumente nicht nur gehört, sondern auch verstanden und ernst genommen werden. Es wird nur miteinander gehen. Ich für meinen Teil kann sagen: Mir ist es egal, ob wir finanziell mit der Premier League mithalten können. Es ist mir egal, ob wir nur alle zehn Jahre die Hand am Champions League-Pokal haben. Es geht um etwas viel Größeres. Es geht um das Herz und die Seele unseres Spiels und um das, was es seit Jahrzehnten ausmacht. Es geht darum, das zu bewahren, was uns dieses Spiel einst hat lieben lassen.


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