Von Sevilla 1982 bis Bukarest 2021: Frankreichs ewiger Kampf mit sich selbst
Von Guido Müller
Der Kern einer jeden Tragödie ist die unlösbare Verknüpfung ihres Protagonisten mit dem unausweichlichen Schicksal. Die Vorsehung der französischen Nationalmannschaft scheint es zu sein, just dann Gefangene ihrer selbst zu werden, wenn sie eigentlich alle Fesseln abstreifen könnte. Wie gestern im bislang dramatischsten Spiel dieser EURO2020.
Wobei "Fesseln" hier nicht in einem buchstäblichen Sinne zu verstehen ist, sondern eher in einem symbolischen. Als all jene Faktoren, die auf dem Weg zum Erfolg noch zum Scheitern des Unternehmens beitragen könnten. Wie zum Beispiel die eigene Hybris.
Denn anders ist es nicht zu erklären, dass die Équipe Tricolore nun schon zum zweiten Mal in der langen Geschichte der internationalen Großturniere einen sicher geglaubten Vorsprung von zwei Toren in einem K.o-Spiel verspielt hat.
Vor allem die Mid-Ager werden sich beim gestrigen Achtelfinal-Drama zwischen Franzosen und Schweizern in Bukarest in Raum und Zeit transportiert gefühlt haben.
Erinnerungen an Sevilla
Knappe 40 Jahre ist es nun her, das Drama von Sevilla. Wahlweise auch "Schlacht" oder einfach nur "Nacht von Sevilla" genannt. Egal, welchen Titel man dem damaligen Spektakel gibt - alle haben sie durchaus ihre Berechtigung.
Zur streng martialischen Komponente gehörte sicherlich die hässlichste Szene des gesamten damaligen WM-Turniers, das vom 13. Juni bis zum 11. Juli 1982 in 14 spanischen Städten ausgetragen wurde.
Als Harald "Toni" Schumacher den erst fünf Minuten zuvor eingewechselten Patrick Battiston bei einem Konter der Franzosen brutal am Kopf checkte, war die Rücksichtslosigkeit des deutschen Schlussmannes niemandem im Stadion verborgen geblieben.
Da war sie wieder - die Fratze des hässlichen Deutschen, der nur eine Menschheitsgeneration zuvor noch den halben Erdball in Brand gesetzt hatte. Doch im Krieg, und als solchen verstanden deutsche Kicker zu jener Zeit noch dieses wunderbare Spiel, herrschen andere Gesetze.
Aber auch davon hätten sich die Franzosen, als Team, von Grund auf erholt (Battiston selber brummte noch Tage später ob der schweren Gehirnerschütterung der Kopf).
Tatsächlich stand es nach Battistons Gesichts-Crash mit Schumachers Hüfte immer noch 1:1. Und das leichtfüßigere, elegantere Spiel hatten in der vorausgegangenen Stunde die Franzosen auf den Rasen des Estadio Sánchez Pizjuán zu Sevilla gezaubert.
Eine Verlängerung sollte also die Entscheidung bringen. Von der regelwerklichen Existenz des Elfmeterschießens war man zwar im Vorfeld des Turniers informiert worden - doch wirklich vorstellen konnte man es sich ob fehlender Präzedenzen bei den vorangegangenen World Cups eher nicht.
Ok, die Deutschen hatten sechs Jahre zuvor den ersten Shoot-out in der Geschichte der Großturniere gegen Panenka und dessen tschechoslowakischen Mitspieler verloren.
Aber das war im Rahmen einer EM und lag ja vor allem an Uli Hoeneß, der eigentlich gar nicht hätte schießen sollen. Und natürlich auch an der beeindruckenden Kaltblütigkeit des Schützen, nach dem dessen Art, seinen Penalty zu verwandeln, fortan benannt werden sollte.
Doch zurück nach Sevilla - und der Extra-Time, die für Deutschland zunächst nach Extra-Demütigung aussehen sollte.
Denn Marius Tresor, dieser Kleiderschrank von Abwehrspieler, und Alain Giresse, der mit seiner kleinen Statur quasi die Anti-These zum französischen Libero darstellte, hatten den gallischen Hahn schon bald nach Wiederaufnahme der Partie scheinbar uneinholbar in Führung gebracht.
3:1 in der Verlängerung gegen angeknockte und ausgepowerte Deutsche, gute zwanzig Minuten vor Schluss - was sollte da noch schief gehen?
Das Problem der Franzosen, nicht nur an diesem Abend unter andalusischem Nachthimmel, war, dass sie sich diese Frage selbst beantworteten: natürlich würde hier und heute gar nichts mehr schief gehen.
Doch von der Euphorie zur Blindheit ist es eben auch nur ein Schritt. Und blind in die letzten Momente eines Gefechtes zu gehen, so aussichtslos die Lage für den vermeintlich unterlegenen Rivalen auch scheinen mag, war noch nie eine gute Strategie.
Weder auf den realen Schlachtplätzen noch auf ihren symbolischen, mit grünem Rasen bewachsenen Reproduktionen.
"Wie ein Rausch durch die Köpfe, die alle Vorsicht aufgaben!"
Hans Blickensdörfer beschrieb diese tiefenpsychologische Eigendynamik in seinem wunderbaren Essay "Ein Spiel löscht alle anderen aus!" mit folgenden Worten: "Euphorie packte sie, heißer gallischer Wunsch, den renommierten Gegner noch tiefer in die Knie zu zwingen. Völlig unnötig war das. Aber es schwappte wie ein Rausch durch die Köpfe, die alle Vorsicht aufgaben, obwohl sie durch zwei Einwechslungen namens Rummenigge und Hrubesch geschreckt wurden." (via Jahrhundert-Fußball im Fußball-Jahrhundert)
"Aber als Rummenigge das 2:3 erzielte, kam der Poulidor-Schock, gegen den sich die Franzosen nicht mehr auflehnen konnten. Sie erkannten, dass die Überholung im Endspurt bevorstand. Sie sind keine Italiener, die sich in solcher Lage eingraben, und auch keine Deutschen, die zumindest das Feuerwerk stoppen, weil nicht die Galerie zählt sondern das Ziel. Sie zündeten weiter bunte und prächtige Raketen und spürten, dass sie verbrennen würden an ihnen."
Die Parallelen zum gestrigen Spiel der Franzosen in Bukarest sind nicht von der Hand zu weisen. Auch wenn es im Detail natürlich Unterschiede gibt. Die Größe des Spiels, hier ein Achtelfinale einer EM, dort ein Halbfinale einer WM, ist einer davon.
Und auch die gestrigen Gegner der Franzosen, die Schweizer, obwohl auch deutsch parlierend, taugten nicht im selben Umfang für die Selbstbestätigung des eigenen nationalen Stolzes, wie der Rivale aus drei blutigen Kriegen (1871, 1914 und 1939) in den letzten einhundertfünfzig Jahren.
Doch die eigene Hybris bedarf nicht notwendigerweise immer der bellizistischen Konfrontation. Wie schon in Sevilla gute vierzig Jahre zuvor, berauschten sich die Gallier am gestrigen Abend in der rumänischen Hauptstadt ab einem bestimmten Moment vor allem an sich selbst.
Die sichere Führung als Wendepunkt zur Katharsis
Was Giresses toller Treffer 1982 für die Franzosen war, wurde gestern der nicht minder schöne Geniestreich des Paul Pogba.
Und wie dieser ihn zelebrierte! Ohne emotionalen Jubel - gleichsam als wollte er damit ausdrücken, dass dieser Schuss gar nicht anders konnte als im von Yann Sommer gehüteten Tor einzuschlagen.
Und wer ist schon die Schweiz, wenn man selbst der Top-Favorit des Turniers ist? Eine Art Pantomime war es, die der United-Star da, ganz für sich, zelebrierte. Direkter Sinngehalt? Unbekannt. Doch die unterschwellige Message, die er mit ihr aussandte, war umso eloquenter: Hier ist alles unter Dach und Fach.
Es war der erste französische Schritt ins gestrige Verderben. Und auch nach dem warnenden 2:3 durch Seferovic (gestern quasi der eidgenössische Rummenigge) ließen sie sich von ihrem Marsch in den Untergang nicht mehr abbringen.
Die Großchancen von Coman, noch in der regulären Spielzeit, Mbappé (110.) oder Giroud (114.) waren da schon längst zur die wirkliche Lage verhüllenden Staffage geworden. Die Tragödie an sich wartete zu diesem Zeitpunkt längst auf ihren gefallenen französischen Helden.