Aus dem Tagebuch eines trockenen Fußball-Fans | 30. April 2020
Von Guido Müller

Das vorweg: Ich bin schon seit langem infiziert. Ne, ne, nicht mit dem Coronavirus. Das ist bislang, so hoffe ich doch, an mir vorbeigegangen. Jedenfalls habe ich keines der klassischen Symptome. Nein, es geht um einen Virus im ideellen Sinne. Es ist die Fußball-Begeisterung, die mich schon vor Jahrzehnten gepackt hat und mich auch nicht in dieser zwangsverordneten Pause loslässt. Im Grunde genommen fühle ich mich gerade, wie sich wohl auch ein Drogensüchtiger fühlen muss, wenn er auf kalten Entzug gesetzt wird. Ein Erlebnis-Bericht.
30. April 2020
Es wäre wohl auch einfach zu schön gewesen, um wahr zu sein. Zumindest aus Sicht des Fußballs und seiner zahlreichen Anhänger. Ein Konzept für den Neustart erstellen, es der Politik präsentieren und im selben Abwasch von dieser durchgewunken werden - so oder ähnlich hatten wir es uns erträumt. Doch der Fußball und einige weitere Bereiche des sozialen Lebens werden (vorerst) warten müssen.
Politik lässt sich vom Fußball nicht treiben
Fast scheint ein wenig strategisches Kalkül dahinter zu stecken. Nach dem Motto: wir (also die Politik) lassen uns von der Quasi-Religion Fußball und seinen Apologeten nicht unter Druck setzen. Auch vor einem so emblematischen Datum wie dem 1. Mai nicht. Gleichzeitig aber haben die Vereine bereits angekündigt, ab sofort in die Dynamik der Antikörper-Tests einzusteigen. Das wiederum ist für mich ein gutes Zeichen. Denn diesen Aufwand würden sich die Klubs sicherlich sparen, wenn sowieso kaum Aussicht auf einen Neu-Start bestünde. Zwar konnten sich in den letzten beiden Wochen auch die einem Neustart skeptisch gegenüberstehenden Stimmen bundesweites Gehör verschaffen (Annalena Baerbock von den Grünen und Karl Lauterbach von der SPD), und auch die Vorstöße der Fußballverbände in Nachbarstaaten wie Frankreich und Holland (wo die Ligen einfach abgebrochen wurden) waren für eine hiesige Wiederaufnahme des Spielbetriebs sicherlich nicht förderlich, doch die Befürworter eines Neustarts kamen ebenfalls zu Wort.
Und dies nicht zu knapp. Ein Olaf Scholz, immerhin Vizekanzler und Chef eines Schlüsselressorts (Finanzministerium), war sich z.B. nicht zu schade, seine Vorliebe für den HSV lautstark und mit markigen Ansagen (von wegen Aufstieg und so!) kundzutun. Dergestalt outete sich der frühere Hamburger Bürgermeister als mindestens genau so fußball-affin wie der bayrische Ministerpräsident Markus Söder, für den ein "Wochenende mit Fußball (selbst ohne Zuschauer!) deutlich schöner" sei, als ohne. Würden derartige politische Schwergewichte sich ohne Not so weit aus dem Fenster lehnen, wenn nicht schon irgendwie, hinter den Kulissen und halboffiziell, die groben Linien vorgezeichnet wären? Von der Kanzlerin selbst wissen wir ja auch um ihre Fußballbegeisterung. Wer erinnert sich nicht an die ausgelassenen Bilder von ihr auf den Haupttribünen deutscher Stadien, immer nahe beim "Kaiser", während des deutschen Sommermärchens?
Die gesellschaftspsychologische Bedeutung des Fußballs
Natürlich kann eine so weitgreifende Entscheidung für oder wider den Neustart nicht allein vom persönlichen Gusto der Kanzlerin - Richtlinienkompetenz hin oder her - abhängen. Aber schaden kann eine gewisse emotionale Nähe der Entscheidungsträger zu diesem Spiel sicher auch nicht. Und auch die gegenüber der FAZ getätigten Aussagen des österreichischen Psychologen Reinhard Haller dürften dem Fußball nützlich sein. Haller beruft sich dabei naheliegenderweise auf den mentalen Effekt, den dieser Sport auf viele Menschen ausübt. Er spricht dabei von der kanalisierenden Wirkung des Fußballs, gerade in diesen Zeiten, in denen das durch die zahlreichen Einschränkungen bewirkte Frustpotential mit jedem Tag zunimmt. Kanalisation und Distraktion: zwei Hauptbegriffe auch in meiner Argumentaion. Der Fußball lenkt ab und kanalisiert dabei gleichzeitig die aufgestauten Aggressionen und Wutpotentiale. Er würde also in der derzeitigen Krisensituation eher konfliktmindernd als konfliktfördernd auf die Gesellschaft wirken.
Das Warten auf den 6. Mai
Doch Befürwortungen, von wem auch immer, hin oder her - die Entscheidung muss die Politik in der nächsten Woche natürlich mit maximaler Rücksichtnahme der reinen epidemiologischen Entwicklung und somit in engem Austausch mit den Virologen treffen. Aber auch von dieser Front hat der Fußball und sein Konzept zum Neustart ja bereits mehr oder weniger die Absolution erteilt bekommen. Organisatorisch ist der Plan absolut machbar und auch sozial vertretbar.
Deshalb hoffe ich einfach mal, dass der heutige Donnerstag lediglich ein Aufschieben um weitere sechs Tage bedeutet - und nicht das jähe Ende einer Saison.