90min diskutiert: Ist der VfB Stuttgart schon bereit für Europa?

Aufsteiger Stuttgart begeistert die Bundesliga mit Offensivfußball
Aufsteiger Stuttgart begeistert die Bundesliga mit Offensivfußball /
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Bundesliga-Aufsteiger VfB Stuttgart ist in der laufenden Saison mittendrin statt nur dabei. Das zweitjüngste Team der Liga begeistert Fußballdeutschland mit tollem Offensivfußball und stehen mit dem aktuell siebten Tabellenplatz mehr als im Soll.

Etablierte Teams wie Borussia Mönchengladbach, Eintracht Frankfurt und die TSG Hoffenheim stehen nach 13 Spieltagen hinter dem VfB. Mit 26 eigens geschossenen Toren stellen die Autostädter zusammen mit dem BVB die viertbeste Offensive der Liga. Kurzum: Der Aufsteiger ist für den Rest der Liga weniger Kanonenfutter, vielmehr ist man ein ernstzunehmender Gegner.

Der siebte Platz regt den ein oder anderen Fan nun sicher schon zum Träumen an, schließlich qualifiziert Tabellenplatz sechs einen Klub für die UEFA-Conference-League-Play-Offs. Aktuell trennen den VfB nur drei Punkte von diesem Erfolg. Doch hat Stuttgart überhaupt das Zeug für Europa? Oder könnte eine Teilnahme an einem internationalem Pokal sogar nach hinten losgehen?


Darum ist Europa eine gute und realistische Sache für den VfB Stuttgart:

"Eine Teilnahme an der Conference League könnte den VfB reifen und stabilisieren"

Markus Grafenschäfer, 90min-Redaktion

Der rasante Aufstieg des VfB hat dann doch etwas überrascht. Anders als beim HSV etwa scheinen die Weichen während der Zweitligasaisons in Stuttgart richtig gestellt gewesen zu sein. Die bitteren Abstiege in die Zweitklassigkeit 2016 und 2019 sind in Canstatt nun endgültig verdaut. Zu aufgeräumt, zu modern und zu motiviert wirkt der "neue" VfB Stuttgart.

Die überzeugenden Leistungen in der Bundesliga sind Beleg für eine erstklassige Arbeit, die rund um Trainer Pellegrino Matarazzo und Vorstandsboss Thomas Hitzelsberger getätigt werden. Als sehr mutig lässt sich das enorme Vertrauen in die jungen Stützen des Teams beschreiben. Versuchen anderswo Aufsteiger ihre Klassenerhaltschancen durch erfahrene Profis aufzubessern, sucht der VfB sein Glück lieber in der Jugend. Beleg: Nur drei Profis der Startelf in der Partie gegen Wolfsburg (0:1) waren älter als 24 Jahre.

Konstanz im Saisonverlauf - auch als David gegen Goliath

Der VfB macht Laune und überzeugt mitunter auch gegen die größeren Klubs. In der Anfangsphase der Saison rang man Bayer Leverkusen ein 1:1 ab, auch gegen den zweiten Überraschungsklub der Saison, Union Berlin, spielte man unentschieden. Glanzvoll dagegen war der 5:1-Kantersieg gegen Borussia Dortmund, welcher bei Schwarz-Gelb Trainer Lucien Favre am Ende den Job kostete. Und mitunter vergisst man auch, dass Stuttgart beim 1:3 gegen den FC Bayern gute Chancen auf einen Punktgewinn hatte.

Die Ergebnisse zeigen: Der Aufsteiger besticht vor allem durch eine sehr gute Konstanz. Einen ersten Einbruch gab es bislang noch nicht, das beweisen auch die wenigen Niederlagen (nur drei Stück) im Saisonverlauf. Dies beantwortet zumindest die Frage, ob Stuttgart im Rennen um Europa eine Rolle spielen könnte, mit ja.

Doch wäre die Teilnahme am Europapokal überhaupt gut für den Klub und die Spieler? Schließlich scheiterten infolge des internationalen Wettbewerbs schon einige "kleinere" Vereine später an sich selbst. Tatsächlich dürfte dies das größte Gegenargument sein.

Gerade zu diesem Punkt könnte dem VfB die UEFA nun in die Karten spielen. Die zur kommenden Saison neu eingeführte Conference League zieht berechtigt die Kritik auf sich, schließlich sind Konzept und Sinnhaftigkeit des Wettbewerbs zweifelhaft. Doch anders als in der Europa oder Champions League würde Stuttgart dort auf höchstens ebenbürtige, wenn nicht vielmehr unterlegende Vereine treffen. Für die Spieler des Vereins wären die Conference-Partien daher eine schöne Abwechslung vom Bundesliga-Alltag, eine gute Bühne um sich selbst zu vermarkten sowie eine Chance, internationale Erfahrung zu sammeln - und das auf einem angenehm niedrigen Level.

Zugegeben, das Spielpensum würde sich durch die Teilnahme erhöhen und man müsste auch unter der Woche auf dem Platz stehen. Doch hier wiegt sich der klassische Kosten-Nutzen-Faktor ab. Durch die Europapokal-Teilnahme würde sich Stuttgart etwas Geld dazuverdienen können, welches gerade in Zeiten von Corona gut tun würde. Eventuelle finanzielle Löcher müsste man ansonsten durch Spielerverkäufe stopfen. Und langfristig gesehen kann das ja auch keine Lösung mehr sein.

Ja zu Europa!

Am Ende wäre der Europapokal eine Bonus-Belohnung nach dem Aufstieg. Vor allem in der Conference League müsste sich Stuttgart gar keinen Druck machen, als dass man jetzt unbedingt dort für Furore sorgen muss. Vielmehr könnte der neue Wettbewerb die finanzielle Stabilität des Vereins sichern. Viel "günstiger" kommt man aktuell wohl kaum zu Geld. Und da der VfB durchaus die Qualität für den sechsten Platz der Bundesliga hat, kann man sagen: Stuttgart hat das Zeug für Europa!


Darum ist der VfB Stuttgart noch nicht bereit für Europa:

"Der internationale Wettbewerb würde der Entwicklung in Stuttgart mehr schaden als helfen."

Florian Bajus, 90min-Autor

Der VfB Stuttgart tut der Bundesliga gut, nach ihrer Rückkehr machen die Schwaben einfach Spaß. Pellegrino Matarazzo impft seinen Spielern Mut und Selbstvertrauen ein, bringt eine klare und offensive Spielidee mit und hat eine feste Achse, auf die er aufbaut: Im Tor ist Gregor Kobel ein sicherer Rückhalt, in der Viererkette sind Waldemar Anton und Kapitän Marc Oliver Kempf unersetzlich, Wataru Endo und Orel Mangala ziehen im Mittelfeld die Fäden und im Angriff wirbeln Silas Wamangituka und Tanguy Coulibaly, während sich Nicolas Gonzalez und Sasa Kalajdzic um das Toreschießen kümmern.

Erstmal muss sich Stuttgart in der Liga einfinden

Nach unruhigen und chaotischen Jahren, die einer Achterbahnfahrt glichen, scheint von außen betrachtet wieder Ruhe eingekehrt zu sein. Trainer Matarazzo, Sportdirektor Sven Mislintat und Vorstandsvorsitzender Thomas Hitzlsperger bilden ein harmonisches Führungs-Trio, das genügend Erfahrung und Kompetenz besitzt und ein gesundes Fundament für die kommenden Jahre bildet.

Der siebte Tabellenplatz ist sicherlich eine schöne Momentaufnahme für die Weihnachtsfeiertage und es ist der Mannschaft auch zuzutrauen, sich in der oberen Tabellenhälfte zu behaupten - aber für Europa ist sie noch nicht bereit. Das Durchschnittsalter des Kaders (24,3 Jahre) ist dahingehend kein Argument, da RB Leipzig mit einem Wert von 23,8 Jahren um die Meisterschaft spielt und in der vergangenen Saison das Halbfinale der Champions League erreicht hat. Vielmehr müssen sich diese Shootingstars wie Kobel, Silas, Kalajdzic, Coulibaly oder auch Mateo Klimowicz, Roberto Massimo und Borna Sosa und auch Chef-Coach Matarazzo erst nachhaltig in der Bundesliga behaupten und die nächsten Schritte in ihrer persönlichen Entwicklung machen.

Mahnende Beispiele aus Freiburg und Hannover

Das aufgebaute Fundament dient in allererster Linie dazu, den VfB wieder zu einem gestandenen Bundesligisten zu formen und sich peu a peu in höhere Tabellenregionen hochzuarbeiten. Dahingehend kann zu großer sportlicher Erfolg trügerisch sein. Man erinnere an Hannover 96, Mainz 05 oder den SC Freiburg, die in der Saison nach der Qualifikation für den Europapokal um den Klassenerhalt gekämpft und diesen Kampf mit Ausnahme von Mainz sogar verloren haben, weil die Dreifachbelastung und die vielen Reisen eine extrem hohe Hürde dargestellt haben, die einen enormen Tribut gefordert haben.

Auch 1899 Hoffenheim hat in dieser Saison mächtig zu kämpfen. In Gruppe L der Europa League feierten die von Sebastian Hoeneß trainierten Kraichgauer den Gruppensieg, dafür haben sie in der Bundesliga sechs Niederlagen kassiert und liegen mit 15 Punkten auf dem zwölften Tabellenplatz.

Unter normalen Umständen wäre es Stuttgart mit der derzeitigen Führungsachse durchaus zuzutrauen, eine Entwicklung wie Borussia Mönchengladbach zu nehmen - dieser Schritt wäre dem Verein aber erst im zweiten oder dritten Bundesligajahr in Folge zuzutrauen. Doch zu Corona-Zeiten ist kaum zu prognostizieren, wo welcher Klub aufgrund der horrenden finanziellen Auswirkungen in einigen Jahren stehen wird.

Step-by-step statt Europa-Träumerei

Es ist davon auszugehen, dass die Verantwortlichen bewusst einen Schritt nach dem anderen machen werden. An allererster Stelle steht der Klassenerhalt in der Bundesliga, mit dem mittelfristigen Ziel, sich wieder in der höchsten deutschen Spielklasse zu etablieren. Sollte die positive Entwicklung erfolgreich fortgesetzt werden, können die einstelligen Tabellenplätze in Angriff genommen werden. Bereits in dieser Saison den Europapokal zu erreichen, hätte dagegen zwar einen kurzfristigen wirtschaftlichen Vorteil, doch die sportlichen Ziele wären in Gefahr. Denn so erfrischend, wie der VfB-Fußball in der sonst so reaktiven Bundesliga sein mag: Es braucht mehr Erfahrung, um sich auch in Europa zu behaupten.