Neuer im Kreuzfeuer der Kritik - doch diese Diskussion ist unfair!
Von Leonard Schmidt

Der Auslöser der aktuellen Kritik sind zwei Situationen, die sich hervorragend für schnelle Urteile eignen, aber kaum für eine seriöse Bewertung. Die erste Szene: das Laufduell zwischen Gabriel Martinelli und Joshua Kimmich gegen Arsenal. Martinelli gewinnt den Sprint deutlich, ist so oder so durch und hätte im direkten Duell gegen Neuer eine Riesenchance gehabt. Neuer sprintet heraus, wie er es seit Jahren tut, um solche Situationen früh zu ersticken. Diesmal tritt er am Ball vorbei. Optisch ein klarer Fehler, taktisch jedoch ein Versuch, eine fast verlorene Szene noch zu retten.
Die zweite Szene gegen St. Pauli entsteht aus einem Ballverlust im eigenen Aufbau, als der FC Bayern komplett offen steht. Der Angreifer läuft frei auf Neuer zu. Dieser spekuliert auf die lange Ecke, der Abschluss geht in die kurze. In einem echten Eins-gegen-Eins aus fünf Metern ist jede Entscheidung riskant. Macht der Torwart die kurze Seite zu, wird ihm das lange Eck um die Ohren geschossen. Bleibt er offen, sieht es genauso schlecht aus.
In beiden Situationen sieht Neuer unglücklich aus, weil man im Nachhinein immer eine alternative Entscheidung findet, die vielleicht besser gewesen wäre. Doch im Spiel auf diesem Niveau geht es um Bruchteile von Sekunden. Da gibt es keine Zeit für Abwägung, nur für Instinkt. Und genau dieser Instinkt hat Neuer schon unzählige Male Situationen gerettet, aber eben auch Fehler erzeugt.
Bayern fordert den Torhüter wie kaum ein anderer Klub
Wichtig ist der Kontext. Ein Bayern-Keeper wird permanent in Situationen gedrängt, die andere Torhüter selten erleben. Die Abwehr steht sehr weit vorne in er gegnerischen Hälfte, der Raum hinter der Linie ist riesig. Neuer spielt seit Jahren bewusst hoch, aggressiv und mutig. FCB-Coach Vincent Kompany fordert genau das von seinem Kapitän. Wenn es funktioniert, ist es weltklasse. Wenn es einmal schiefgeht, steht er alleine am Pranger.
Fußball braucht weniger Hysterie und mehr Blick auf das Gesamtbild
Dabei stand Neuer noch vor kurzem als Kandidat für die WM im Fokus. Mehrere Fragen der Presse an ihn und sein Umfeld sowie an die Verantwortlichen von DFB und Bayern hatten immer wieder eine Chance für Neuer im WM-Kader thematisiert. Genau so läuft die Debatte mittlerweile generell. Bayern spielt unentschieden nach Mega-Saisonstart und hat plötzlich ein "Problem". Dortmund gewinnt mit Kovac regelmäßig, aber angeblich stimmt "die Richtung" nicht. Große Namen werden innerhalb weniger Tage von Weltklasse zu Sorgenkindern gemacht.
Dabei sprechen die Zahlen für sich. Neuer steht bei 243 Bundesliga-Spielen ohne Gegentor und das in 534 Einsätzen. Fünfmal wurde er Welttorhüter, seine Leistungen über zwei Jahrzehnte sind historisch. Zu Saisonbeginn wurde er von allen Seiten für seine starken Leistungen gelobt. Das macht ihn nicht unfehlbar, aber es verpflichtet dazu, ihn nicht anhand von wenigen Szenen zu beurteilen.
Am Ende muss Nagelsmann entscheiden, welcher Torhüter am besten in sein Profil passt. Aber eines sollte klar sein: Ein Ausnahmekeeper wie Neuer verdient Respekt, Konstanz in der Bewertung und eine faire Einordnung kritischer Szenen. Wer zwei Jahrzehnte auf absolutem Topniveau hält, sollte nicht an zwei unglücklichen Momenten gemessen werden. Sondern an Zahlen, Fakten und einer Karriere, die den deutschen Fußball geprägt hat wie kaum eine andere.
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