Analyse: Licht und Schatten bei deutschem EM-Auftaktsieg gegen Polen
Von Adriana Wehrens

So richtig konnte sich die deutsche Nationalmannschaft nicht über den EM-Auftaktsieg gegen Polen freuen. Zwar gelangen zwei Tore, wobei Spielerin des Spiels Jule Brand einen Treffer und eine Vorlage beisteuerte, und hinten stand die Null. Doch mit Ruhm bekleckerte sich das DFB-Team dabei nicht. Und was noch viel mehr ins Gewicht fällt: Kapitänin Giulia Gwinn verletzte sich am Knie und musste den Platz unter Tränen verlassen. Zweifelhaft, ob die Rechtsverteidigerin vom FC Bayern München weiter am Turnier teilnehmen kann. Ein idealer Start für die Wück-Elf sieht anders aus.
Gwinn-Verletzung überschattet Auftaktsieg
Es waren Schreckensmomente, als Giulia Gwinn sich am Freitagabend auf dem Rasen des Kybunpark wälzte. Das Gesicht schmerzverzerrt, die Hand am Knie, das ihr in der Vergangenheit schon Probleme bereitet hat. Die Kapitänin musste darauf ausgewechselt werden. Ein kleiner Trost, dass Gwinn mit ihrer Grätsche ein wohl sicheres Gegentor verhinderte. Bundestrainer Christian Wück sprach von einem "bitter erkaufte[n] Sieg".
Einer der wenigen Lichtblicke des Abends folgte mit der Einwechslung von Gwinn-Ersatz Carlotta Wamser, die auf ihren unverhofften ersten Einsatz im Dress der Nationalmannschaft kam. Mit dem ersten Schritt auf dem Rasen war der Frankfurterin anzumerken, dass sie keine lange Eingewöhnungszeit benötigte. Mit voller Leidenschaft warf sich Wamser in die Zweikämpfe und machte erstaunlich viele Laufwege mit nach vorne. Die rechte Abwehrseite blieb für den Rest des Abends Tabu-Zone für jede polnische Angreiferin.
Von den Mitspielerinnen und dem Bundestrainer gab es nach dem Schlusspfiff nur lobende Worte für die variabel einsetzbare Wamser. „Carlotta ist einfach ein unfassbares Energiebündel auf dem Platz“, schwärmte Frankfurt-Teamkollegin Laura Freigang. Und auch Torhüterin Ann-Katrin Berger gab zu verstehen, wie fasziniert sie von Wamsers Auftreten gewesen sei. „Die, die sich gewundert haben, dass sie mit in diesen Kader kommt, haben heute gesehen, warum", bekräftigte Wück seine Entscheidung, Wamser mit zur EM zu nehmen.
Sollten sich die Befürchtungen bestätigen, könnte Wamser für den Rest des Turniers die wichtige Rolle zukommen, Gwinns rechte Seite zu übernehmen, während Vize-Kapitänin Janina Minge die Binde tragen wird. Gegen Mannschaften mit noch mehr Qualität wird voraussichtlich nicht nur in die Viererkette mehr gefordert werden, sondern auch Gwinns hundertprozentiger Einsatzwille nur schwer zu ersetzen sein.
Die Null steht – Deutsche Verteidigung hält Pajor in Zaum
Vor dem Spiel regelmäßig in der Kritik stand die deutsche Viererkette. Noch nicht so lange eingespielt hat es in der Vorbereitung den ein oder anderen Wackler gegeben. Auch wenn es gegen Polen zwischenzeitlich knapp wurde, stand nach 90 Minuten die Null auf der Anzeigetafel.
Der Innenverteidigung um Minge und Rebecca Knaak gelang es, Ewa Pajor in Schach zu halten – so weit man das bei einer Weltklasse-Stürmerin schaffen kann. Wenn die die Ausnahme-Könnerin nicht gerade von zwei deutschen Verteidigerinnen gedoppelt wurde, kam die Aufgabe im direkten Zweikampf gegen Pajor meist Knaak zu. Die Defensivspielerin von Manchester City machte ihre Sache über weite Strecken ordentlich mit gut getimten Grätschen und angepasstem Stellungsspiel. Da half es auch, dass die schnellen polnischen Angreiferinnen das ein oder andere Mal in die Abseitsfalle tappten.
Durch die hochstehenden Außenverteidigerinnen Gwinn/Wamser und Linder ging der Bundestrainer das Risiko ein, konteranfällig zu sein. Die gefährlichsten Chancen der Gegnerinnen ergaben sich jedoch in den Situationen, als es den Deutschen nicht gelang, den Ball ordentlich aus dem eigenen Sechzehner zu klären, wie etwa in der Aktion, als Gwinn sich verletzte. Insgesamt eine solide Leistung der Abwehr, die allerdings gegen Polen noch nicht ansatzweise komplett ausgelastet war.
Prunkstück Offensive? - Vor allem in Hälfte eins Fehlanzeige
Im Gegensatz dazu enttäuschte vor allem in der ersten Hälfte die deutsche Offensive, die kürzlich erst als das „Prunkstück“ der Nationalelf betitelt worden war. Wie erwartet standen die Gegnerinnen über den Großteil der Partie hinweg enorm tief in der eigenen Hälfte, was es dem DFB-Team erschwerte, hinter die letzte Kette zu kommen.
Dabei half es nicht, dass bei den zahlreichen Flanken, die Richtung Sechzehner geschlagen wurde, das Zielwasser fehlte. Darüber hinaus bemängelte Wück mehrfach die Raumbesetzung, wodurch es seiner Mannschaft lange nicht gelang, eine gefährliche Torchance herauszuspielen. Überhaupt wirkte es lange Zeit so, als hätte die deutsche Mannschaft keinen Plan B, als die Außenbahnen auf den Weg zu schicken und auf die erlösende Flanke zu warten, die zunächst nicht kam. Erst nach einer guten halben Stunde kam man auf die Idee, dass auch Flachpasspiel durch die Mitte eine Lösung darstellen könnte.
Bundestrainer Wück fand die erste Hälfte "gar nicht so schlecht". Bestätigte allerdings auch, dass viele Situationen nicht gut zu Ende gespielt wurden und die Boxbesetzung suboptimal gewesen sei.
Nach der Pause kam der deutsche Offensiv-Block schließlich ins Rollen. Die Außenspielerinnen Klara Bühl und Jule Brand – letztere positionierte sich im zweiten Durchgang gewinnbringend weiter außen – erkannten wieder, wo ihre großen Stärken liegen, und gingen vermehrt in Dribblings. Und noch wichtiger: die Flanken wurden endlich besser gespielt. Es bedurfte jedoch einer Einzelaktion von Brand, um die lang ersehnte Führung zu erzielen.
Der Neuzugang von Olympique Lyon machte auf der rechten Seite einen Haken und zog in die Mitte, wo Brand mit ihrem (vermeintlich) schwächeren linken Fuß sehenswert in das linke obere Toreck einschoss. „So häufig ist der mir noch gar nicht gelungen. Es freut mich umso mehr, dass es heute geklappt hat“, freute sich Brand nach dem Spiel. Der zweite deutsche Treffer durch Lea Schüller – unter anderem vorbereitet von Wamser – fiel dann in bekannter Manier aus Dribbling – Flanke – Kopfball – Tor.
Im zentralen offensiven Mittelfeld erhielt Linda Dallmann den Vorzug vor Laura Freigang. Die Bayern-Spielmacherin war bemüht, profitierte aber nicht unbedingt vom Flügel-Flankenspiel ihrer Mitspielerinnen. Und auch den Einwechselspielerinnen um Freigang, Sydney Lohmann und Giovanna Hoffmann gelang es nicht mehr, deutlich mehr Schwung ins Spiel zu bringen
Insgesamt blieb die Chancenausbeute der deutschen Mannschaft mangelhaft. Am Ende konnten sich Wück und Co. glücklich schätzen, dass Torhüterin Ann-Katrin Berger mit einer Glanzparade gegen Pajor den Anschlusstreffer verhinderte und somit die Chance auf ein Polen-Comeback ausblieb.
Eine deutlich schwierigere Aufgabe vorgesetzt bekommt das DFB-Team am Dienstag, 05. Juli, gegen Dänemark. Auch wenn die Däninnen um Starstürmerin Pernille Harder ihr erstes Spiel gegen Schweden knapp verloren, präsentierten sie sich deutlich strukturierter als erwartet.
Mehr News zur Frauen-EM lesen
feed