WM 2023 - Deutschland raus, die "Kleinen" trumpfen auf: Kraftverhältnisse haben sich verschoben

Jubel bei Marokko: Der WM-Neuling erreichte das Achtelfinale
Jubel bei Marokko: Der WM-Neuling erreichte das Achtelfinale / Paul Kane/GettyImages
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Zum ersten Mal stehen bei einer Frauen-WM drei afrikanische Teams im Achtelfinale, die Debütanten schlugen sich gut. Während früher die USA und Europa dominierten, rücken die Teams nun näher zusammen. Die Aufstockung der WM auf 32 Teams war ein voller Erfolg, die europäischen Teams können sich nicht mehr nur auf ihre individuelle Qualität verlassen.

Europa und die USA machen den Titel nicht mehr unter sich aus

Die WM 1999 ist den meisten Fans wegen der ikonischen Szenen im Finale ein Begriff: Vor mehr als 90.000 Zuschauern gewannen die USA im Elfmeterschießen, der Jubel von Brandi Chastain ging in die Geschichtsbücher ein. Für die USA war es ein Wendepunkt, der die Gründung der ersten professionellen Liga zur Folge hatte.

Brandi Chastain
Die Fotos von Brandi Chastains Jubel 1999 gingen um die Welt / ROBERTO SCHMIDT/GettyImages

Aber nicht nur deswegen war es eine historische WM: Zum ersten Mal stand mit Nigeria ein afrikanisches Team in der K.o.-Runde. Die Super Falcons waren auch in den Jahren danach das dominante Team auf dem Kontinent, gewannen elfmal den Afrika Cup. Nigeria nahm an jeder WM teil, konnte das Resultat von 1999 - das Erreichen des Viertelfinales - aber nicht toppen.

Jetzt nimmt das Team um Asisat Oshoala einen neuen Anlauf, nachdem sie bereits in der schweren Gruppe B mit Australien und Kanada starke Leistungen gezeigt haben. Mit England wartet ein harter Brocken im Achtelfinale, aber es wäre nicht die erste Überraschung in diesem Turnier.

Neben Nigeria stehen zwei weitere afrikanische Teams im Achtelfinale: Marokko und Südafrika. Südafrika setzte sich in seiner Gruppe gegen die favorisierten Italienerinnen durch, Marokko landete trotz Auftakt-Niederlage vor Deutschland auf Platz zwei. Die Aufstockung der WM auf 32 Teams wurde kritisch gesehen, viele warnten, sie komme zu früh. So weit ist der Plan aber voll und ganz aufgegangen, keiner der Debütanten war chancenlos - mit Ausnahme vielleicht von Vietnam.

Entwicklungen in den letzten Jahren außerhalb von Europa wurden verschlafen

In den letzten Jahren hat sich viel getan, und nicht nur in Europa. Der mediale Fokus liegt meist auf den Zuschauerrekorden - im Camp Nou, im Wembley-Stadion, in der Allianz-Arena. Die strukturellen Veränderungen sind für die langfristige Entwicklung jedoch wichtiger, und davon gab es auch und gerade außerhalb von Europa einige.

Aus der Unterschätzung der "Kleinen" spricht vermutlich auch eine gewisse europäische Arroganz, an dem Selbstverständnis der früher dominanten Teams wird nun ordentlich gerüttelt. Die USA und Deutschland waren es gewohnt, früher Titel unter sich auszumachen, nun ist Deutschland draußen und die Amerikanerinnen auch nur durch eine große Portion Glück weiter.

Diana Gomes, Rose Lavelle
Im Duell gegen die USA hatte Portugal die Nase vorne und kickte den Titelverteidiger fast raus / Brad Smith/USSF/GettyImages

Viele Länder haben es verpasst, die Entwicklung anderswo zu verfolgen; das rächt sich nun. Die Kräfteverhältnisse verschieben sich rapide, und Europa und die USA müssen sich die Frage gefallen lassen, ob sie sich wirklich noch als Nabel der Fußballwelt ansehen können. Anders als Deutschland hat Marokko eine vollprofessionelle erste und zweite Liga, in den letzten Jahren wurden rasante Fortschritte gemacht.

Das soll nicht maskieren, dass es in vielen Ländern weiterhin große Probleme gibt, gerade hinter den Kulissen. Missbrauch ist eines der großen Themen der WM, etwa bei Sambia und Haiti. Gerade wenn der Fußball ein Sprungbrett in ein besseres Leben sein kann, entwickeln sich leicht Machtgefälle und Abhängigkeiten.

Dass Jamaika und Co. trotz dieser widrigen Umstände Top-Leistungen bringen konnten, wirft die Frage auf: Wie viel besser könnten sie bei einer angemessenen Behandlung noch sein? Jetzt stehen diese Probleme im Fokus, und wenigstens in einigen Ländern ist davon auszugehen, dass die guten Leistungen bei der WM einen Wandel anstoßen, wie damals in den USA 1999. Für die ehemals großen Teams wird es von nun an nicht leichter werden, darauf müssen sie sich einstellen.

Dazu gehört als erstes, vor der eigenen Tür zu kehren. Schließlich betreffen diese strukturellen Konflikte bei Weitem nicht nur die kleinen Teams aus ärmeren Ländern, sondern auch Frankreich, Irland oder Spanien. Selbst wenn es nicht zum Worst Case mit Missbrauch und öffentlichen Rücktritten kommt, wurde es doch oft verpasst, die Infrastruktur weiter auszubauen. Nach der WM 2011 ging die Anzahl der Mädchen, die in Deutschland Fußball spielen, stetig zurück und stieg nicht wie erhofft an.

Fehlende Effizienz im Vergleich zu kleineren Nationen

Ein kritischerer Blick auf die eigenen Fortschritte in den letzten Jahren, gemessen an den vorherigen Erfolgen, ist daher nötig. Die ehemals Großen können sich nicht mehr auf ihren Lorbeeren und ihrem individuellem Talent ausruhen, denn andere Nationen haben in puncto Physis und besonders Taktik aufgeholt. Einfach die besten Spielerinnen auf den Platz schicken und hoffen, dass ihre Dribblings und Flanken funktionieren, das klappt nicht mehr. Gegen gut organisierte Defensiven taten sich Deutschland, England, Brasilien und Co. schwer.

Für die europäischen Teams ist diese zunehmende Konkurrenz aber nicht nur eine Bedrohung, sondern auch eine Chance: Um nicht abgehängt zu werden, müssen sie spätestens jetzt etwas ändern. Wer das schon vor Jahren verstanden hat, wie etwa die englische FA, hat jetzt bereits einen großen Vorsprung.

In Deutschland war das zumindest vor der WM noch nicht angekommen. Martina Voss-Tecklenburg sah die Erweiterung der WM auf 32 Teams kritisch und meinte, die Maßnahme käme noch zu früh. Eine Aussage, die nicht gut gealtert ist. Deutschland hatte auf dem Papier mit Kolumbien, Südkorea und Marokko eine einfache Gruppe und schied trotzdem zum ersten Mal in der Gruppenphase aus.

Alexandra Popp
Fassungslosigkeit beim DFB-Team nach dem Ausscheiden / Visionhaus/GettyImages

Bei diesem desaströsen Ausscheiden muss man sich beim DFB, dem größten Sportverband der Welt, fragen, wie man so wenig aus den eigenen Möglichkeiten machen kann. In Südkorea spielen laut Trainer Colin Bell nur 1400 Frauen Fußball, in Deutschland sind mehr als 800.000 Spielerinnen registriert. Da muss viel mehr Effizienz möglich sein.

Nachwuchsteams: Kraftverhälftnisse wandeln sich auch dort

Bei den Nachwuchsteams gab es beim DFB zuletzt auch gemischte Nachrichten. Die U19 verlor das EM-Finale unglücklich gegen die dominante Nation im Jugendfußball, Spanien, was Hoffnung macht. Andererseits gab es letztes Jahr ein Aus in der Gruppenphase der U19-EM, bei der U17-WM ging das Halbfinale gegen Nigeria verloren. Berauschende Ergebnisse sind das nicht, viele Probleme in der Nachwuchsarbeit sind ähnlich wie im Männerfußball.

Andere Nationen tun sich dabei ebenfalls schwer, allen voran die USA. Die Nachwuchsteams der Stars and Stripes schnitten bei den letzten Junioren-Turnieren noch schlechter ab. Bei der U17-WM 2022 gab es das Aus im Viertelfinale, 2018 schieden sie in der Gruppenphase hinter Nordkorea und Kamerun aus. Bei der U20-WM 2022 schafften die USA es ebenfalls nicht über die Vorrunde hinaus, ebenso wenig wie 2018.

Diese Ergebnisse müssen nicht überbewertet werden, aber sie sind trotzdem ein weiterer Indikator dafür, dass sich in den letzten Jahren vieles verändert hat. Die Kraftverhältnisse verschieben sich, und die früher Großen müssen jetzt handeln und ihre alten, teils veralteten Methoden hinterfragen, wenn sie nicht abgehängt werden wollen.