Platoche wird 65 - eine Liebeserklärung!

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AS Photo Archive / Alessandro Sabattini/Getty Images
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Ich war neun, als ich dich zum ersten Mal in Aktion sah. Anlass war die allererste Weltmeisterschaft, der ich in meinem noch jungen Leben beiwohnen durfte. Noch heute habe ich die wichtigsten Szenen dieses Turniers von 1982 bruchstückhaft, aber trotz allem immer noch klar im Kopf. Das Tor von Vandenbergh gegen den amtierenden Weltmeister im Eröffnungsspiel von Barcelona. Oder das beschämende Ballgeschiebe deutscher und österreichischer Kicker in Gijón. Und natürlich jenes unvergleichbare Halbfinale, welches zum ersten Mal in der WM-Geschichte in einem Elfmeterschießen entschieden wurde.

Das Finale von Madrid, mit einer ausgelaugten deutschen Elf, die sich einer mit den Hufen scharrenden Squadra Azurra ausgesetzt sah, hat sich im Laufe der Jahrzehnte in seine Einzelheiten zerbröselt und bedient in meinem Gedächtnis nur noch die Funktion, das Turnier chronologisch abzuschließen. Doch dich konnte ich auch nach diesen wunderschönen vier Wochen in Spanien nicht vergessen.

Französische Raffinesse mit italienischen Wurzeln

Dein Name erinnerte mich irgendwie immer mehr an einen Italiener als an einen Franzosen. Erst viele Jahre später habe ich erfahren, dass dein Vater vom heimischen Stiefel nach Nancy in Nordfrankreich emigriert war. Doch die Kunstfertigkeit, mit der du traumwandlerisch sicher millimetergenaue Pässe auf den Rasen zaubern oder direkte Freistöße im Gehäuse des Gegners unterbringen konntest, hatte dann doch so gar nichts von der zynischen Rationalität und Nüchternheit des damals schon sehr ergebnisorientierten Calcio.

"Dein" Turnier sollte übrigens erst noch kommen. Die Europameisterschaft in Frankreich. Oder: France 84. Es sollte mein zweites fußballerisches Großereignis werden. In deinem eigenen Reich, aus dem du wenige Jahre zuvor ausgezogen warst, um Turin zu erobern, wolltest du dich also zum Herrscher Europas krönen. Wolltest die zwei Jahre zuvor erlittene Schmach, als - neben Brasilien - beste Mannschaft des Turniers gegen die kraftmeiernden Deutschen, also gegen "meine" Rummenigges, Breitners und Fischers ausgeschieden zu sein, vor deinen Landsleuten tilgen. Allez les bleus! So hörte man die stolze Grande Nation damals kämperisch, vom Atlantik bis zum Mittelmeer.

Geburtsstunde eines Superstars

Und es gelang dir vom ersten Tag an. Zugegeben: gegen die Dänen musste noch ein hässliches Tor, das dir zugesprochen wurde, herhalten, um den Sieg im Eröffnungsmatch unter Dach und Fach zu bringen. Doch schon im zweiten Gruppenspiel gegen die als Geheimfavoriten eingestuften Belgier begann deine große Show: drei Tore erzieltest du. Und zwar mit links, mit rechts und per Kopf. Und als wärst du auf den Geschmack gekommen - ließest du gegen Jugoslawien (ja, so hieß das Land damals doch, das heute mehrere Länder sind!) erneut drei Treffer folgen. Darunter das 2:1 mit einem fantastischen Flugkopfball, dem schönsten Tor des gesamten Turniers. Sieben Tore in drei Vorrundenspielen. Derartige Statistiken kannte ich bis dato nur aus den Fußball-Büchern meines Bruders. Von Spielern wie Pelé, Eusébio oder Gerd Müller. Jetzt war ich bei der Geburtsstunde eines neuen Superstars leibhaftig dabei. Brauchte von dessen Wundertaten nicht mehr nur in alten Schmökern zu lesen - sondern konnte ihn direkt, live (und in Farbe!), verfolgen.

Etwas mehr musstest du dann schon im Halbfinale gegen die Portugiesen leiden. In einem der großartigsten Fußballspiele in der Historie dieses Sports stand es nach neunzig Minuten 1:1. Fünf Minuten vor Ende der Verlängerung führte auf einmal der Gast - und das nicht einmal unverdient. Aber an diesem verrückten Abend in Marseille fehlte ja noch dein Beitrag. Und zwar das Schlusswort. Und deshalb verpasstest du den nach dem Ausgleich in der 115. Minute (Domergue) sichtlich geknickten Iberern auch noch vor dem drohenden Elfmeterschießen den Todesstoß.

Im Finale von Paris, das ich mit Freunden in einem Zeltlager bei Züschen über Transistorradio verfolgte, wolltest du dann den letzten Schritt zur Glorie gehen. Und wie hätte man dies besser machen können, als das Führungstor zu erzielen? Wobei Arconada dir in diesem Moment sehr hilfreich zur Seite stand. Aber vergessen wir das.

Der Moment, als Arconada Platinis Freistoß über die Ziele laufen ließ
Der Moment, als Arconada Platinis Freistoß über die Ziele laufen ließ / AFP/Getty Images

Der König im Exil setzt sich in seiner Heimat die Krone auf

Was ich nicht vergessen will, und auch gar nicht kann, sind diese ersten Erinnerungen meines Daseins als Fußball-Fan. An gut zwei Wochen Spitzenfußball (wenn wir das Gerumpel der DFB-Elf mal beiseite lassen) in sonnenüberfluteten oder in Fluchtlicht getauchten Stadien, in denen dramatische Duelle ausgefochten und wunderschöne Tore erzielt wurden. An stimmungsvolle Arenen, von Lens bis Marseille, von Nantes bis Lyon, die so gut wie jedes Spiel (selbst die der drögen Deutschen) zu einem Fest des Fußballs machten. Und an einen im italienischen Exil lebenden französischen König, der bei dieser EM seinen Frieden mit seinen Untertanen machte. Und sie mit ihm.

Dafür, für diese Momente, die bis heute in meinem Kopf nachhallen, danke ich dir, Platoche. Heute wirst du 65. Doch in meinem geistigen Auge bist du immer noch dieser knapp 30-jährige, der einem ganzen Turnier seinen unverwechselbaren Stempel aufdrücken und endgültig in die Ruhmeshalle dieses Sports einziehen konnte. Merci, Michel. Und - bon anniversaire!