Tim Walter zeigt die Krallen: "Dann habe ich den Beruf verfehlt, ganz ehrlich!"

Schreckt auch vor deutlichen Worten nicht zurück: HSV-Coach Tim Walter
Schreckt auch vor deutlichen Worten nicht zurück: HSV-Coach Tim Walter / Cathrin Mueller/Getty Images
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Wenn ein Trainer öffentlich einem seiner Spieler vorhält, den Beruf verfehlt zu haben, könnte das Sprengstoff für das innerbetriebliche Klima im Klub sein. Doch irgendwie hat man als Beobachter des Hamburger SV das Gefühl, dass Tim Walter mit seiner Politik der klaren Kante genau der Richtige für den als "Wohlfühloase" verschrienen Kader der Rothosen ist.


Und der Erfolg (sprich das Weiterkommen im DFB-Pokal) gab ihm ja am Ende auch recht.

"(...) so ein Tor, wie wir es kassiert haben, ist eine Frechheit meiner Mannschaft. Da nicht nach hinten zu laufen, ist schon fahrlässig. Wenn der Einwurf über mich drüber geworfen wird und ich kann nicht in meine Position kommen, dann habe ich den Job verfehlt, ganz ehrlich."

Zwar hat Walter diese harschen Worte nach dem Spiel in die Sky-Mikrophone gesprochen, doch gibt es kaum Gründe, anzunehmen, dass er in der mannschaftsinternen Halbzeitbesprechung nicht ähnlich deutlich geworden ist.

Tim Leibold, Bryan Henning
Agierte beim Ausgleichstreffer der Eintracht viel zu pomadig: Tim Leibold (hier im Duell mit Braunschweigs Henning) / Cathrin Mueller/Getty Images

Und siehe da: Tim Leibold, dem die Verbalabfuhr des Trainers ob seines tranigen Rückzugsverhaltens vor dem Ausgleichstreffer der Braunschweiger vor allem gegolten hatte, zeigte sich in Durchgang zwei durchgehend konzentriert - wie auch der gesamte Rest der Mannschaft.

Was auch bitter nötig war. Denn während der Kunstpause, die sich das Team nach der überzeugenden ersten halben Stunde, gekrönt vom Führungstor durch Gyamerah, zu nehmen berechtigt sah, kamen die Geister der Vergangenheit wieder hoch.

War sie wieder da, die Erinnerung an zahlreiche Spiele der jüngeren Vergangenheit, in der der Hauptgrund der Niederlagen (oder zumindest Punktverluste) einzig und allein in der Mannschaft selbst zu verorten war.

Auch die mittlerweile drittklassigen Braunschweiger spürten zwischen der 30. und der 68. Minute, dass da mehr drin war, als ein scheinbar achtbares Ausscheiden gegen den klassenhöheren Rivalen aus Hamburg.

Doch stemmten sich die Hamburger diesmal mit Erfolg gegen die eigene Bequemlichkeit - und fanden ab Mitte der zweiten Hälfte wieder in die Spur. Von der sie sich auch bis zum erlösenden Schlusspfiff nicht wieder abbringen ließen.

Nach "Spielerversteher" Thioune hat nun ein Mann der alten Schule das Sagen

Natürlich ist es recht müßig, einen Vergleich zwischen Trainern anzustellen. Schon deshalb, weil Tim Walter und sein Vorgänger Daniel Thioune beim HSV über verschiedene Kader (wenn auch mit einer gewissen Schnittmenge) verfügten.

Daniel Thioune
Versuchte es als "Freund" seiner Spieler - und wurde von ihnen im Stich gelassen: Walters Amtsvorgänger Daniel Thioune / Daniel Kopatsch/Getty Images

Dennoch wäre eine solche öffentliche Anprangerung eines Spielers einem Daniel Thioune wohl nie über die Lippen gekommen. Der letztjährige Übungsleiter am Volkspark interpretierte seine Führungsrolle von Anfang an spielernah.

Das ist löblich - in manchen Konstellationen aber kontraproduktiv. Weil Spieler halt auch nur Menschen sind. Und zu viel Zuckerbrot (und keine "Peitsche") auf Dauer zu Selbstgefälligkeit führt - dem Anfang vom Ende einer professionellen Einstellung.

Wie die HSV-Fans leidvoll erfahren mussten, haben es die Spieler Thioune auch nicht gedankt - und schmierten wie ihre Vorgänger in der zweiten Saisonhälfte sang- und klanglos ab.

Tim Walter scheint dies im Hinterkopf zu haben. Was er auch muss, um den Teufelskreis rund um die in den vergangenen Jahren zu schnell einsetzende Bequemlichkeit von HSV-Profis ein für alle Mal aufzubrechen. Denn nur so kann eine Wettbewerbskultur gedeihen, die diese Bezeichnung auch verdient.

Aus dem pädagogischen Gesichtspunkt heraus ist nun zu erwarten, dass Walter zeitnah das Vieraugen-Gespräch mit Leibold sucht, um hier gar nicht erst einen Raum für verletzte Eitelkeiten entstehen zu lassen.

Dem großen Ziel müssen sich alle ständig und jederzeit unterordnen

Die Spieler müssen schlichtweg merken: 'Wenn ich nicht alles gebe, bin ich - unabhängig von meinem Standing (immerhin war Leibold letztes Jahr Mannschaftskapitän) - weg vom Fenster. Und zwar solange, bis ich wieder bereit bin, meinen eigenen Schweinehund zu überwinden - und diese schmerzhaften Meter eben im Sprint und nicht im Trabertempo zu gehen.'

Der Kern der Walter'schen Botschaft ist klar. In seinen Worten lautet sie: "Wenn wir die absolute Bereitschaft über 90 Minuten haben, ist es schwer gegen uns zu spielen." Nur muss sie halt auch abgerufen werden. In jedem einzelnen Spiel - und über die komplette Spieldauer hinweg.

Und wenn man 2:0 oder 3:0 führt (wie letztes Jahr in Hannover, um nur eines von vielen Beispielen zu nennen) - dann gehe ich halt aufs dritte oder vierte Tor. Oder bleibe zumindest von der Gesamtausrichtung so gallig und diszipliniert, dass der Gegner gar nicht mehr die Chance hat, den Rückstand zu verkürzen.

Man darf nun gespannt sein, wie Tim Leibold mit dem Anpfiff seines Trainers umgeht. Schon in vier Tagen werden wir schlauer sein - denn da geht es für den HSV am Millerntor um das stets brisante Stadtderby beim FC St. Pauli.

Und ausgerechnet Tim Leibold hat in diesem Hamburger Bruderkampf noch etwas gut zu machen. Denn eine Disziplinlosigkeit seinerseits kostete ihn im Vorjahr, an selber Stelle, die Rote Karte in der Nachspielzeit - und eine darauffolgende Zwei-Spiele-Sperre.