Als Gott vom Vesuv herabstieg: Maradonas wilde Jahre in Neapel!

Etsuo Hara/GettyImages
facebooktwitterreddit

Die Geschichte von Diego Armando Maradona bei der SSC Neapel hat bei allen märchenhaften Zügen den grundsätzlichen Charakter einer Tragödie. Einer modernen, auf den Fußball bezogenen Tragödie. Denn als der Argentinier im Juli 1984 aus Barcelona in die Arme von SSC-Präsident Corrado Ferlaino floh, waren die Süditaliener praktisch am Boden.


Nur mit Ach und Krach hatten sie in der Vorsaison den Abstieg in die Serie B vermieden. Und plötzlich stand da ein kommender Weltfußballer in der Tür, für den der Klub (bzw. dessen Präsident) die damalige Weltrekordablöse von 24 Millionen DM locker gemacht hatte.

Die Ankunft in Neapel

In seinen Erinnerungen an diese Zeit schrieb Maradona später in seiner Biographie: "Als ich ankam, erfuhr ich, dass der Klub gerade den Abstieg in die Serie B vermieden hatte. Das Niveau des Kaders war tatsächlich nur zweitklassig."

Doch mit el pelusa, dem Wuschelkopf, wie er in Argentinien damals schon genannt wurde, sollte ja nun eine neue Zeitrechnung in der wuseligen Metropole am Vesuv eingeläutet werden. Endlich wollte der jahrzehntelang gesellschaftlich wie wirtschaftlich unterdrückte Süden aufbegehren gegen die Dominanz aus Rom, Mailand und Turin.

Diego Armando Maradona
Großer Bahnhof für den Superstar bei seiner Ankunft in Neapel / Franco Origlia/GettyImages

Doch von heute auf morgen geht so ein Paradigmenwechsel natürlich nicht vonstatten. In der ersten Saison Maradonas bei den Partenopei, der Spielzeit 1984/85, belegte die Mannschaft am Ende einen achten Rang, der nach den Beinahe-Abstürzen in den Jahren zuvor jedoch als Erfolg gewertet werden konnte.

In dieser Spielzeit kam am vorvorletzten Spieltag übrigens ein 18-jähriger Nachwuchsspieler zu seinem Profi-Debüt. Beim Spiel gegen Juventus Turin stand erstmals Ciro Ferrara auf dem Platz. Er sollte in den kommenden Jahren zu einer der Säulen der Mannschaft werden.

In der folgenden Saison (1985/86) verzeichneten die Süditaliener zwar einen abermaligen Entwicklungsschritt und wurden Dritter des Schlussklassements, doch die Zweifel rund um die Piazza dei Martiri mehrten sich.

War el pibe de oro, der Goldjunge, vielleicht gar nicht so außergewöhnlich, wie alle behauptet hatten?

Ein Weltmeister in Neapel

Die Antwort gab Maradona höchstselbst. Und zwar bei der WM 1986 in Mexiko. Über dieses Turnier sind bereits ganze Bibliotheken geschrieben worden. Über Maradonas Tor, mit Hilfe von "Gottes Hand", im Viertelfinale gegen England, über sein Wahnsinns-Solo, im selben Spiel, und über den genialen Reisepass auf Burruchaga im Endspiel gegen die Deutschen sowieso.

Man kann sich vorstellen, mit welcher Euphorie Maradona bei seiner Rückkehr von den heißblütigen Napolitanern empfangen wurde. Ein Weltmeister bei der SSC Napoli! Das hatte es zuvor noch nie gegeben.

Und irgendwie schien sich der Hype um den Superstar immer mehr mit dessen Titelhunger und Tatendrang zu vermischen und sich diese explosive Mischung fortan kontinuierlich selbst zu befeuern.

Mit Salvatore Bagni (der wie Maradona 1984 ins San Paolo gekommen war), dem bulligen Mittelstürmer Bruno Giordano, dem bereits genannten Ferrara sowie den Neuzugängen Fernando de Napoli (US Avellino) und Andrea Carnevale (Udinese Calcio), nahm das Korsett der späteren Erfolgsmannschaft allmählich Konturen an.

Andrea Carnevale, Diego Armando Maradona, Fernando De Napoli
De Napoli, Maradona und Carnevale während der Saison-Vorbereitung / Alessandro Sabattini/GettyImages

Die erste Meisterschaft

60.000 Dauerkarten setzte der Klub vor dieser Spielzeit ab. Kein einziger sollte sein regelmäßiges Kommen bereuen. Denn die Mannschaft gewann von Spieltag zu Spieltag an Selbstvertrauen - und stand am 10. Mai 1987 vor den Toren zur Ewigkeit.

Im Heimspiel gegen die Fiorentina reichte schon ein Punkt zum ersten Meistertitel der Vereinsgeschichte. Und der rückte nach der 1:0-Führung der Hausherren in der 29. Minute in immer greifbarere Nähe.

Maradona - wer sonst - hatte assistiert, Carnavale vollendet. Was folgte war eine geradezu ekstatische Eruption der Gefühle, die nur noch vom Jubel beim Schlusspfiff übertroffen wurde. Zwar hatte die Viola noch durch Roberto Baggio ausgeglichen - doch am ersehnten ersten Scudetto der Klubgeschichte konnte das nichts mehr ändern.

In den folgenden Stunden und Tagen spielten sich unglaubliche Szenen in der Mittelmeermetropole ab. An Schlaf war aufgrund der pausenlos prozessierenden Auto-Corsos praktisch nicht zu denken.

Aber wer wollte schon schlafen in diesem süßen Moment des Triumphs? Überall zogen euphorisierte Fans durch die Straßen und Plätze der Stadt, sangen "ho visto Maradona" ("Ich habe Maradona gesehen") und freuten sich einfach nur - und vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben -, Napolitaner zu sein.

Napoli v Fiorentina - Serie A
Ausnahmezustand im Mai 1987 in Neapel: Die SSC ist erstmals italienischer Meister / Etsuo Hara/GettyImages

Gut einen Monat später folgte dann sogar noch der Triumph im italienischen Pokal, als Atalanta Bergamo in zwei Spielen (3:0, 1:0) bezwungen werden konnte. Maradona hatte zu zwei der vier Toren die Vorarbeit geleistet.

Mit diesem Titel-Double hatte sich die SSC Napoli endgültig auf die Landkarte des europäischen Fußballs katapultiert. Doch Ferlaino wollte mehr. Und sein argentinischer Weltmeister auch.

Für die kommende Spielzeit wurde mit Careca einer der damals weltbesten Stürmer verpflichtet. Im Europapokal der Landesmeister bekam es die SSC jedoch gleich in der 1. Runde mit dem wiedererstarkten Real Madrid zu tun, das mit 2:0 und 1:1 die Oberhand behielt.

Doch den weiterhin guten Leistungen in der Serie A tat dieses Ausscheiden kein Abbruch. Zunächst jedenfalls. Fünf Spieltage vor Saisonende standen die Süditaliener jedenfalls mit vier Punkten Vorsprung (damals herrschte noch die Zwei-Punkte-Regel) dicht vor der Titelverteidigung.

Ma-Gi-Ca

Was auch an der Ma-Gi-CA ("magico": italienisch für "magisch") genannten Sturmreihe um Maradona, Giordano und Careca lag, die Tor um Tor schoss.

Antonio Careca, Diego Armando
Zusammen mit Bruno Giordano formten Careca und Maradona eine der stärksten Sturmreihen Europas / Alessandro Sabattini/GettyImages

Doch aus den letzten fünf Partien holten die Partenopei nur noch einen mickrigen Zähler und mussten am Ende der AC Mailand den Vortritt lassen.

Zum ersten Mal erschien dann auch die berüchtigte Verbrecherorganisation Camorra im Leben des Diego Armando Maradona. Gerüchte kamen auf, dass der Leistungseinbruch der SSC durch sanften Druck seitens der Camorristi provoziert worden sein soll. Die hätte nämlich durch die Titelverteidigung empfindliche Verluste im Rahmen illegaler Wetten verzeichnet.

Fortan blieb ein unsichtbares Band zwischen Maradona und der napolitanischen Unterwelt gespannt, das erst mit Maradonas endgültigem Abgang aus Neapel zerschnitten werden sollte.

Triumph im UEFA-Pokal

In der Saison 1988/89 wurde die SSC erneut Vize-Meister, verlor zudem das Pokalfinale gegen Sampdoria Genua (mit Vialli, Cerezo und Mancini) durch ein krachendes 0:4 im Rückspiel (das Hinspiel hatten die Süditaliener noch mit 1:0 für sich entschieden).

Doch im UEFA-Cup hielt man sich schadlos und räumte im Laufe des Turniers Großkaliber wie Juventus Turin (im Viertelfinale) und Bayern München (Halbfinale) aus dem Weg. Im Finale war dann auch der VfB Stuttgart kein ernsthafter Gegner mehr.

Raffaele Di Fusco, Massimo Crippa, Diego Armando Maradona, Francesco Romano, Giuliano Giuliani
Di Fusco, Crippa, Maradona, Romano und Giuliani bejubeln den Triumph im UEFA-Cup-Finale 1989 gegen den VfB Stuttgart / Alessandro Sabattini/GettyImages

Erste Risse

Zum ersten Mal hatte die SSC einen internationalen Titel errungen. Und Maradona schien bereits zu diesem Zeitpunkt das Gefühl zu haben, dem Ende seiner Zeit in Neapel entgegen zu gehen. Er bat Ferlaino um die Einlösung des Versprechens, den Klub nach dem Gewinn des Europapokals verlassen zu dürfen.

Doch der Klubchef stellte sich quer - und blockte sämtliche Offerten für den Superstar (unter anderem von der AC Mailand) ab. Und der reagierte, wie er so oft in seinem Leben reagiert hat: mit kindlichem Trotz, der zum Ende selbstzerstörerische Züge annahm.

Corrado Ferlaino
Corrado Ferlaino nach dem Gewinn des Scudetto im Mai 1987 / Etsuo Hara/GettyImages

Im berüchtigten Nachtleben der Vesuv-Metropole war Maradona fortan ein häufig und gern gesehener Gast. Die Nähe zur organisierten Kriminalität wurde immer augenscheinlicher.

Ein letztes Aufbäumen mit dem zweiten Meistertitel

Doch irgendwie konnte sich das Team dann doch noch mal aufraffen. In der Saison 1989/90 revanchierte man sich gegenüber den Rossoneri - und schnappte sich den zweiten Scudetto binnen drei Jahren.

Absturz und Abschied

Es folgte, wie in einer klassischen Tragödie üblich, der Absturz. Sowohl auf dem Platz als auch außerhalb. Die Skandale um Drogenmissbrauch häuften sich. Genauso wie die Verhaftungen. Nach langem Hin und Her wurde schließlich im September 1992 der Vertrag zwischen beiden Parteien aufgelöst.

Acht Jahre herrschte "D10S" über sein irdisches Reich. Auf die Rückkehr des Erlösers warten seine Gläubigen seitdem. Nicht nur in Neapel.