Bierhoff macht Deutschland klein: "Kein EM-Mitfavorit"
Von Guido Müller
"Ich gehe nicht davon aus, dass wir als Mitfavorit zur EM fahren." Oliver Bierhoff dixit. Und zwar im Vorfeld des am Mittwochabend (20.45 Uhr) stattfindenden Testspiels gegen Argentinien. Da macht es sich der DFB-Direktor vielleicht ein wenig zu leicht.
Wie eine vorauseilende Entschuldigung
Denn diese Aussage wirkt irgendwie wie eine vorauseilende Entschuldigung für eine heute durchaus zu erwartende zähe Vorstellung des DFB-Teams. Das geht nämlich, genau wie der Gegner, mit erheblichen Personalproblemen in das Prestige-Duell.
Wenn aber zwei nominell dezimierte Mannschaften aufeinandertreffen, hat es die Auswärtsmannschaft in der Regel leichter. Der Druck des Publikums (im Sinne von Erwartungshaltung) lastet heute Abend sicherlich nicht auf den Südamerikanern. Die können, auch angesichts des Ausfalls ihres alles überragenden Fixsterns Lionel Messi, sogar ziemlich unbeschwert drauflos spielen.
Vielleicht gewinnen sie sogar. Das wäre am Ende auch keine große Sensation - aber würde natürlich die deutsche Medienlandschaft in Nervosität versetzen. Deshalb einfach mal tief stapeln. Nach dem Motto: wenn es am Ende anders kommt - um so besser.
Doch ein viermaliger Weltmeister und dreimaliger Europameister ist natürlich bei einem jeden Turnier einer der Mitfavoriten. Was nicht heißt, dass auch Deutschland vor Fiaskos wie bei der vergangenen Weltmeisterschaft in Russland gefeit ist.
Aber dieses für alle ernüchternde Fiasko muss nicht unbedingt dahin führen, sich jetzt ständig kleiner zu machen als nötig. Was der aktuellen Mannschaft noch abgeht, ist die Konstanz. Das ist kein Wunder, da sich das Team noch finden muss. Das wiederum ist schwierig, wenn der Bundestrainer aufgrund von Verletzungssorgen ständig umbauen und improvisieren muss. Dies ist seit dem propagierten Umbruch im Frühjahr dieses Jahres leider immer wieder der Fall gewesen.
Wobei: jedes Schlechte birgt auch immer etwas Gutes. Durch die Verletzungsmisere ist Löw gezwungen, den hintenanstehenden Spielern (wie Niklas Stark, Luca Waldschmidt) eine Chance zu geben. Und wer weiß: vielleicht startet heute Abend einer von ihnen seinen persönlichen Über-Flug und spielt sich bis Sommer nächsten Jahres in die Mannschaft.
Von der Form im November können keine Schlüsse auf den folgenden Sommer gezogen werden
Olli Bierhoff sollte schon aus eigener Erfahrung wissen, dass der Leistungsstand einer Nationalmannschaft im Winter oder Frühjahr keine Rückschlüsse auf die Performance beim dann folgenden Turnier (EM oder WM) im Sommer erlaubt. Im Guten wie im Schlechten. Noch im März 2018 spielte Deutschland zum Beispiel gegen Spanien (1:1) eines seiner besten Spiele der letzten Jahre.
Hätte damals jemand nach den Erfolgsaussichten beim drei Monate später beginnenden WM-Turnier in Russland gefragt, hätte er wohl sehr positive Prognosen zur Antwort bekommen. Das Ende der Geschichte ist uns allen noch leidvoll in Erinnerung.
Jetzt läuft es beinahe anders herum: zuletzt setzte es gegen Holland eine deftige 4:2-Niederlage, und auch das anschließende Spiel in Nordirland war sicherlich keine Offenbarung.
Und schon greifen die Mechanismen: erstmal alles kleinreden.
Psychologisch durchaus verständlich nach dieser verheerenden Nicht-Leistung des Teams in Russlands Weiten. Doch da gab es ja auch noch Störfeuer (Erdogan-Gate), die mit dem reinen sportlichen Aspekt nur am Rande was zu tun hatten.
Halten wir fest: aktuell fehlt fast eine ganze Mannschaft - und dennoch liest sich die voraussichtliche Startelf für das Spiel gegen die Gauchos immer noch recht ordentlich.
Bis auf Can, Stark und Waldschmidt stehen heute ausschließlich diesjährige Champions-League-Teilnehmer auf dem Platz. Das spricht für einen tiefen Fundus, aus dem Löw schöpfen kann.
Bis zum Sommer nächsten Jahres werden die jetzt fehlenden Spieler (Leroy Sané, Timo Werner, Leon Goretzka, Toni Kroos, Marco Reus, Jonas Hector, Antonio Rüdiger, Matthias Ginter, Thilo Kehrer, Jonathan Tah und Nico Schulz) wieder fit sein. Das Fußballspielen werden sie in dieser Zeit nicht verlernen, und den Fitness-Rückstand kann man in ein, zwei Monaten wieder aufholen. Wo genau ist also das Problem?
Nochmal: Bierhoff spricht der DFB-Elf den Status des "Mit-Favoriten" ab. Wenn wir als absoluten Top-Favoriten einfach mal den amtierenden Weltmeister Frankreich, mit seiner atemberaubenden Offensive (Mbappé, Griezmann, Dembéle, um nur die drei absoluten Stars zu benennen) nehmen, ist nicht verständlich, warum die deutsche Auswahl hinter Frankreich, und als eines von mehreren Teams (Spanien, England, Italien), eingeordnet werden sollte. Was am Ende im Turnier herauskommt, kann niemand vorhersagen.
Der "Fluch" des Erfolges: Deutschland ist immer einer der Mit-Favoriten
Aber Deutschland sollte eigentlich zum erweiterten Favoritenkreis (nichts anderes bedeutet Mit-Favorit) gezählt werden. Kurios dabei: im Ausland ist es auch so. Wohin man guckt und wen man auch fragt: Deutschland wird immer genannt. Aber wie das Sprichwort schon sagt: der Prophet im eigenen Lande gilt nichts.