Der FC Bayern in der Sinnkrise - "Wer san mia?"
Von Guido Müller
Worte verfolgen einen bisweilen ein ganzes Leben. Ein Fußballerleben zumal. "Wenn sie wüssten, wen wir schon alles sicher haben!" Uli Hoeneß dixit. Das war im Frühjahr. Angesichts der damals schon zahlreich vorhandenen potentiellen Neuzugänge (Werner, Havertz, um nur mal im nationalen Markt zu bleiben) war diese Aussage natürlich brisant. Und schürte Erwartungen. Ein jeder im Lande glaubte, dass Bayerns Boss auch ein entsprechendes Blatt in den Händen hielt. Heute wissen wir, dass dem nicht so war.
Vollmundigen Ankündigungen folgen keine Taten
Heute muss man sich vielmehr eine andere Frage stellen: Was hat Uli Hoeneß bloß dazu gebracht, den Druck auf seine leitenden Angestellten (sprich: Sportdirektor Hasan Salihamidzic) derart zu erhöhen, dass am Ende nur Enttäuschung zurückbleiben konnte? Denn zu dem Zeitpunkt seiner Aussagen konnte Hoeneß noch gar keine sicheren Prognosen über die Transfers machen. Er hatte nämlich noch gar keine eingetütet. Das sehen wir jetzt.
Wo also steht der FC Bayern München anno 2019 in der Fußballwelt?
Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass das Problem des Vereins ist, zu gut für die heimische Liga zu sein und zu schlecht im internationalen Vergleich. Natürlich kann man sich das Ausscheiden in den letzten Jahren in der Champions League auch mit Verweisen auf Verletzungspech, fehlende Tagesform usw schönreden.
Doch viermal in Folge vorzeitig (heißt: vor dem Finale) die Segel zu strecken, ist kein Zufall, sondern Indiz einer Kräfteverschiebung. Und zwar hin zum großen Kapital.
Dieses Gefühl, international hinterher zu hinken, hat wohl auch die Münchener befallen. Die Souveränität vergangener Epochen ist ihnen abhanden gekommen. Das konnte man bei den letzten Jahreshauptversammlungen erkennen, als die Bosse doch sehr dünnhäutig auf vereinsinterne Kritiker reagierten.
Wo steht der FC Bayern anno 2019?
"Mia san mia" verkündet das Vereinsmotto. Doch wer ist der FC Bayern? Der Klub, zu dem wenigstens alle deutschen Top-Talente, früher oder später, gehen? Der Klub, der auch ohne Mega-Transfers weiterhin in der europäischen Spitze mitmischt? Will man denn nur mitmischen oder nicht doch lieber vorangehen? Wie früher...
Doch mittlerweile gehen selbst deutsche Top-Talente nicht mehr zwangsläufig an die Säbener Straße, um von dort die große Fußballwelt zu erobern. Ein Kai Havertz könnte den Sprung in die Weltklasse auch ohne den Umweg München schaffen. Ein Leroy Sané hat es bereits vorgemacht.
Verlust der einstigen Souveränität
A propos Sané: das monatelange Transfergerangel um den Hochveranlagten veranschaulicht nahezu exemplarisch die Getriebenheit der Münchener. Nachdem man sich endlich dazu durchringen konnte, das Interesse formal anzumelden, mussten die Münchener in der Folge ihren Stolz mehr als einmal runterschlucken. Früher wäre ein vom FC Bayern auserkorener Spieler freudig an die Decke gehüpft und hätte gesagt, dass er sich kaum einen besseren Verein für seine Entwicklung vorstellen kann.
Sané dagegen wollte lieber erstmal in den Urlaub fahren und dann - vielleicht - dazu was sagen. Doch auch nach dem Urlaub kam nie ein wirkliches Bekenntnis des Spielers. Bayern-Manager aus anderen Zeiten hätten spätestens da gesagt: 'Genug, bis hierher und nicht weiter.' Wer nicht voll davon überzeugt ist, für uns zu spielen, den wollen wir auch nicht. Doch stattdessen ließen die Münchener sich förmlich am Nasenring durch die Manege ziehen und wertvolle Zeit verstreichen.
Als sich dann der Spieler auch noch zur Unzeit verletzte, wurde das ganze Planungsdesaster der Münchener offenkundig: kein Callum Hudson-Odoi, der den FC Bayern wohl nur benutzt hat, um bei Chelsea einen neuen und natürlich lukrativeren Vertrag rauszuschlagen, kein Kai Havertz (der war zu teuer und wird es wohl im nächsten Jahr auch sein), kein Timo Werner (den das Wechselgeschacher offensichtlich die Form vergangener Jahre gekostet hat), kein Nicolas Pepé (der jetzt bei Arsenal auf Torejagd geht) und - zumindest vorläufig - kein Leroy Sané (dem man die Begeisterung nach München zu gehen aber auch nie wirklich anmerkte).
Trotzdem ist es nicht verständlich, warum man jetzt in dieser Personalie - trotz Verletzung - keinen weiteren Vorstoß macht. Aktuell dürfte er für weniger zu haben sein, als die City-Bosse veranschlagen. Jetzt eintüten und ab Winter einsetzen. Und für die Überbrückungszeit holt man irgendeinen Back-up aus einer der großen Ligen (wie eben Ivan Perisic). Das wäre auch irgendwie smart gewesen. Haben sie aber (noch) nicht gemacht.
Man kann es drehen und wenden, wie man will: der FC Bayern scheint aktuell in einer veritablen Sinn- und Identitätskrise zu stecken. Wie schnell er da wieder rauskommt, ist in einem derart volatilen Geschäft wie dem Profi-Fußball schwer zu sagen. Drei, vier gute Ergebnisse reichen manchmal aus, um alles vorher Gewesene, so negativ es auch war, vergessen zu lassen. Doch auch andersrum wird ein Schuh draus: ein schlechter Start übermorgen gegen Hertha, ein, zwei weitere Enttäuschungen - und in München brennt der Baum, wie er schon lange nicht mehr gebrannt hat. Rund um die Säbener Straße spielen sie gerade ein wenig mit dem Feuer...