Ärger um Abseitsregelung: Warten - aber worauf genau?
Von Guido Müller
Zwei- bis dreimal passierte es bei der U21-EM der Herren, ähnlich oft bei der Frauen-WM: Zuerst dachte ich mir nicht viel dabei, aber den Sinn konnte ich von Anfang nicht verstehen. Jetzt mehren sich zum Glück die Stimmen, die mir beiseite springen. Sodass dieser Spuk hoffentlich bald sein Ende findet.
Irgendein Schlaumeier bei der IFAB oder FIFA muss es sich ja ausgedacht haben: Durch eine entsprechende Regeländerung sind die Schiedsrichter jetzt angehalten, bei zweifelhaften Situationen eine mögliche Abseitsstellung betreffend erst mal weiterlaufen zu lassen.
Ich habe da noch den guten Dodi Lukebakio vor Augen, als er beim Spiel Belgien - Spanien aus deutlicher Abseitsposition, kurz hinter der Mittellinie, alleine auf den Torwart zulief, diesen noch umspielte und dann locker ins Tor einschoss. Dann wurde erst die Fahne gehoben! Obwohl der Linienrichter auch schon die originäre Abseitsposition perfekt überblickt haben musste. Warum wurde nicht schon da die Abseitsstellung angezeigt? Warum lässt man das Spiel wider besseren Wissens weiterlaufen? Welchen Sinn hat diese Regel-Novelle?
Bei früheren vergleichbaren Situationen ging es fast immer um zwei mögliche Abnehmer eines Passes oder Flanke, somit immer um den Komplex des passiven Abseits. Da hat man - mit logischem Kriterium - erstmal die Situation abgewartet, um zu sehen, wer letztendlich an den Ball kommt - und damit womöglich strafbar im Abseits steht.
Der Linienrichter hebt nur noch spät die Fahne
Aber in den Szenen, von denen ich beispielhaft berichte, ging es nicht darum. Sondern um einen einzigen Spieler (oder Spielerin), der (oder die) in klarer Abseitsposition einen Ball empfängt. Und den (oder die) man dann völlig absurderweise erst mal weiterspielen lässt, womöglich noch jemand umdribbeln lässt, ehe man erst dann, und nachdem dessen (oder deren) Flanke noch einen Abnehmer gefunden hat, auf Abseits entscheidet. Sozusagen mit fünf bis zehn Sekunden Verspätung. Noch mal, IFAB oder FIFA (oder beide): Erklärt uns doch bitte mal den Sinn dieser Maßnahme.
Denn außer dafür zu sorgen, dass ein ganzes Stadion hochkocht, weil es sich umsonst über ein Tor gefreut hat, oder dass Verteidiger, weil sie den (im Abseits stehenden) erstmal mal weiterspielenden Stürmer noch irgendwie zu Fall bringen wollen, brutale Grätschen ansetzen, wird diese Änderung absolut nichts bringen.
Bei der momentan stattfindenden Copa America gab es bereits Beschwerden einiger Nationaltrainer. Kolumbiens Auswahltrainer, der Portugiese Carlos Queiroz, monierte zum Beispiel: "Uns wurde die neue Regel in der Kabine kommuniziert, fünfzehn Minuten vor dem Spiel. Was passiert, wenn ein Verteidiger in so einer Situation entscheidet, rotwürdig foul zu spielen?" Fragen, auf die die FIFA schon bald Antworten finden muss.
Es gibt eigentlich keinen einzigen logischen Grund, an dieser Regelung festzuhalten. Vor allem: Die letzten fünfzig Jahre oder so hat es doch auch eigentlich ganz gut geklappt. Jemand stand im Abseits und unmittelbar wurde dies geahndet. Worauf sollen die Schiedsrichter denn bitte jetzt warten? Dass erst ein Tor fällt, damit man es dann annullieren kann? Ich verstehe es nicht, und werde es auch nicht verstehen. Habe aber trotzdem die Hoffnung, dass dieser Schwachsinn bald wieder Geschichte ist. Dann widme ich mich vielleicht diesen dritten Schiedsrichtern, die im Strafraum stehen und nie (ich wiederhole: nie) irgendetwas mitbekommen. Ach, es gibt noch so viele Fragen....