Erik ten Hag: Der niederländische Pep Guardiola
Als Erik ten Hag im Dezember 2017 bei Ajax Amsterdam anheuerte, waren seine Kritiker klar in der Überzahl. Eineinhalb Jahre später steht der Cheftrainer mit seiner Mannschaft vor dem Einzug ins Champions-League-Finale. Nicht nur in den Niederlanden klatschen die einstigen Kritiker nun Beifall.
Erst 21 Monate ist es her, als Ajax Amsterdam unter der Leitung von ten Hags Vorgänger Marcel Keizer in den Playoffs zur Europa League dem norwegischen Underdog Rosenborg Trondheim unterlag. Im Sport kann es schnell von unten nach oben gehen. Das weiß Erik ten Hag nur zu gut. Die Talsohle hat Ajax Amsterdam längst hinter sich gelassen.
Wenn ein Trainer keine Vergangenheit als Spieler bei Ajax hatte, "nur" für Enschede, Utrecht, Waalwijk und De Graafschap gespielt hat und einen wenig renommierten Verein wie den FC Utrecht trainiert hat, hat er es schwer als Kandidat. Wenn er zudem Dialekt und mit heiserer Stimme spricht und nicht als Charismatiker gilt, braucht es viel Überzeugungskraft und eine ansprechende Vita, damit dieser als Trainer des niederländischen Rekordmeisters eingestellt wird. Im Dezember 2017 unterschrieb Erik ten Hag, auf den die genannten Eigenschaften zutreffen, ein Arbeitspapier bis 2020.
Als wenn das nicht schon genug wäre, stimmten anfangs die Ergebnisse nicht, vor allem die größte Zeitung des Landes De Telegraaf schrieb ten Hag voreilig ab. In seiner ersten Saison erreichte das Team hinter PSV Eindhoven den zweiten Platz. Die niederländische Meisterschaft wurde wieder einmal verpasst - den letzten Titel gab es 2014.
Lernen von Pep
Allmählich zeichnete sich jedoch ab, für welche Art Fußball der frühere Innenverteidiger steht: Offensivfußball, Ballbesitz, energisches Pressing. Zu gute kam ten Hag bei seiner Ernennung als Ajax-Coach, dass er zwischen 2013 und 2015 beim FC Bayern München gearbeitet hatte. Zwar war er nur als Übungsleiter der Reserve tätig, in diesem Umfeld konnte er allerdings von den Besten lernen - zum Beispiel von Pep Guardiola.
An beinahe jedem Tag beobachtete er Guardiolas Training, wie er später erzählte. Er orientierte sich am Spanier, verfeinerte und schliff an seiner Idee vom konsequenten Spiel gegen den Ball und zielgerichteter Offensive. Nach ten Hags Ansicht soll jeder Spieler täglich ein bisschen besser werden und in jedem Spiel das Maximum herausholen. Klingt wie Pep 2.0. Sogar physisch ähneln sich Guardiola und ten Hag: Beide haben sich von ihrem Haupthaar verabschiedet, sind fast gleich groß und besitzen eine ähnlich schmale Statur. ten Hag ist 49 Jahre, Guardiola 48.
"Alle greifen an, und alle verteidigen", erklärte ten Hag seinen Spielstil. Was im Angriff häufig chaotisch wirkt, ist beabsichtigt. Ohne defensive Disziplin wird sein bevorzugtes 4-2-3-1-System allerdings keine Früchte tragen: "Gegen den Ball gibt es kein Wenn und Aber. Dann muss jeder diszipliniert seine Position halten", forderte er. "Unser Mittelfeld weiß, wie man Fußball spielt", betonte der akribische Taktiker jüngst, "wir wissen, wie man den Ball behält. Und wir wissen, wie wir ihn so schnell wie möglich zurückbekommen können. Alle zehn Spieler tun es."
Kritik am niederländischen Fußball
ten Hag übte sich auch in Fundamentalkritik hinsichtlich des niederländischen Fußballs: "Ich glaube, es gibt kein Land auf der Welt, in dem sich Innenverteidiger häufiger den Ball zuspielen." Diese Statik möchte der Trainer nicht von seinem Team sehen. Vielmehr sei bei ihm Ballbesitz eine Mittel zum Zweck, "um dem Gegner wehzutun".
ten Hag, in Haaksbergen nahe der deutschen Grenze geboren, hat natürlich fantastische Spieler zur Verfügung. Die Aufstellung um die Schlüsselspieler Frenkie de Jong, Matthijs de Ligt, Hakim Ziyech, David Neres, Donnie van de Beek und Dusan Tadic kann mittlerweile jedes Oranje-Mädchen runterbeten. ten Hag aber setzt die Profis perfekt in Szene: Der defensive Mittelfeldspieler Frenkie de Jong nimmt eine Hauptrolle ein, ten Hag beordert ihn während der Partien immer wieder in die Verteidigung. Aus der tiefen Position ordnet de Jong das Aufbauspiel. Außerdem hat ten Hag den erst 19-jährigen Innenverteidiger Matthijs de Ligt zum Kapitän ernannt, was diesem sichtlich gutgetan hat.
Starker Punkteschnitt
161 Tore hat Ajax in dieser Saison bereits geschossen - so viele wie keine holländische Mannschaft je zuvor. In 70 Pflichtspielen seit ten Hags Amtsantritt sammelte das Team 169 Punkte. ten Hags Schnitt (2,41 Punkte pro Spiel) ist besser als der von Peter Bosz (2,13) und auch Frank de Boer (2,02), der 2014 mit der Meisterschaft den letzten Titel nach Amsterdam holte.
Nicht einmal 25 Jahre alt ist die Mannschaft im Schnitt, Woche für Woche nimmt sie es mit den potentesten europäischen Klubs auf. Den amtierenden Champions-League-Sieger Real Madrid hat Ajax auswärts mit 4:1 bezwungen. Auch für Juventus Turin, immerhin Finalist 2015 und 2017, war Ajax Endstation. Gegen die Tottenham Hotspur im Halbfinal-Hinspiel zeigte die Mannschaft trotz ihrer Jugend ihre ganze Reife und gewann mit 1:0. Selbst ein Unentschieden im Rückspiel würde für den Finaleinzug ausreichen. Aber ist es realistisch, dass Ajax einen Bus vor dem eigenen Tor parkt und auf ein torloses Remis setzt? Eher nicht.
Es ist Anfang Mai - Ajax hat immer noch die Chance auf das Triple: In der Meisterschaft führt Amsterdam dank der besseren Tordifferenz die Tabelle vor dem punktgleichen Eindhoven an, am Sonntag steht das Pokalfinale gegen Willem II Tilburg an. Dieser Tage fühlt man sich zurückerinnert an die 1970er Jahre, als die Spielidee vom "Totaalvoetbal" (jeder Feldspieler greift an, jeder verteidigt) unter Trainer Rinus Michels und um Spielmacher Yohan Cruyff nicht nur drei Landesmeistertitel einbrachte, sondern auch stilbildend war für heutige Trainer wie Pep Guardiola - und letztlich auch ten Hag.
Opfer des eigenen Erfolgs
Während vor 40,50 Jahren erfolgreiche Überraschungsmannschaften über mehrere Jahre zusammenblieben, ist dies heute in Zeiten des Turbo-Kapitalismus nicht mehr vorstellbar. Im Sommer wird die Achse des Teams wohl auseinanderbrechen. de Jongs Abgang zum FC Barcelona steht schon fest. Mit de Ligt, Ziyech, Neres, van de Beek und Linksverteidiger Nicolas Tagliafico könnten sich weitere Profis zahlungskräftigeren Vereinen anschließen. Denn finanziell spielt Ajax anders als auf dem Platz nicht in der Königsklasse.