"Positiver Start mit viel Potential" - Die EM-Kolumne von Verena Schweers
Von Verena Schweers

Diese EM fühlt sich erfrischend an. Die Stadien sind nicht riesig, aber stimmungsvoll. Die Fanlager laut, leidenschaftlich und präsent. Endlich rückt der Frauenfußball dorthin, wo er hingehört – ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Dokus, Sendezeiten, Berichterstattung: Man merkt, da bewegt sich was. Die Bühne für einen unterhaltsamen Fußballsommer steht also.
Die Vibes stimmen
Nach fünf Partien, bei denen – außer Spanien – keine Nation so richtig überzeugen konnte, fiel auch für die deutsche Nationalelf am Freitagabend endlich der Startschuss zur Europameisterschaft. Vor dem Anpfiff gegen Polen wirkten Christian Wück und sein Team fokussiert und gleichzeitig entspannt. Schon bei der Vorbereitung in Herzogenaurach entwickelte sich dieses besondere Teamgefüge – ob das der Wolfgang-Petry-Effekt ist?
Wie dem auch sei: Die Mannschaft lebt und strahlt eine Mischung aus professioneller Vorbereitung und greifbarem Miteinander aus. Man hat das Gefühl, jede Spielerin weiß genau, was von ihr erwartet wird – und was sie geben kann. Der Kader steht. Die Rollen sind verteilt. Wer in der Startelf ist, wer sich (noch) hinten anstellen muss – alles transparent, alles scheint besprochen. Kein Gerangel um Rollen, keine Unsicherheiten. Stattdessen Vorfreude, Klarheit und ein Team, das angekommen wirkt – im Turniermodus und bei sich selbst.
Lieber dreckiger Sieg als schöner Fehlstart
Stichwort angekommen: Bis die DFB-Frauen gegen Polen in das Spiel fanden, dauerte es einige Zeit. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass Turniere immer einen anderen Charakter haben als einfache Vorbereitungsspiele. Vor allem das Auftaktspiel hat dabei eine immense Bedeutung. Deutschland zählt aufgrund der Qualität, Kadertiefe und der gesunden Mischung aus Erfahrung und Unbekümmertheit vollkommen zurecht zu den Titelfavoriten. Aber mit dem Favoritenstatus kommt eben auch der Druck. Und genau deshalb war dieser Auftaktsieg gegen Polen vor allem eins: wichtig. Kein fußballerisches Feuerwerk – aber ein Signal. Denn so sehr man gerne über Spielkontrolle, Taktik und Technik redet: Der erste Schritt in ein Turnier ist fast nie elegant. Er muss nur sitzen und das hat er am Freitagabend.
Deutschland wollte über die Flügel kommen, Druck erzeugen, Eins-gegen-eins-Situationen suchen, Hereingaben erzwingen. In der Theorie klang das gut, in Halbzeit eins haperte es aber an der Umsetzung. Die Polinnen standen kompakt in der Defensive und agierten aggressiv in den Zweikämpfen. Das stellte das deutsche Team vor größere Erwartungen als zuvor gedacht. Die Strafraumbesetzung fehlte, der letzte Pass kam oft nicht an. In der zweiten Halbzeit war eine deutliche Leistungssteigerung erkennbar.
Zwei Mannschaftsteile mit unterschiedlichen Leistungen
Besonders die Offensive um Jule Brand und Klara Bühl legte einen Gang zu und setzten sich ein ums andere Mal gut durch. Sinnbildlich dafür war der beherzte Schuss mit dem schwächeren Linken von Jule Brand, der die Fans auf den Rängen zum Jubeln brachte. Die DFB-Frauen müssen allerdings deutlich effizienter werden, um gegen bessere Gegnerinnen zu bestehen. Sie ließen zu viele "100 prozentige" Chancen aus. Dennoch zeigte die zweite Halbzeit in vielen Teilen das Potenzial, das in diesem Angriff steckt.
Zur Abwehr muss ich allerdings ein nüchterneres Fazit ziehen. So sehr man der deutschen Defensive ihre Zweikampfstärke und Spielintelligenz attestieren kann – das Tempo fehlt. Das Duo Knaak und Minge wirkte in manchen Umschaltsituationen schlicht überfordert und hatte Mühe, mit den polnischen Stürmerinnen Schritt zu halten. Wenn vorne das Pressing nicht greift und der Zugriff fehlt, gerät die Abwehr ins Straucheln. Das ist keine Schande, aber eben auch keine Kleinigkeit. Wer um den Titel mitspielen will, darf sich hinten nicht derart leicht aushebeln lassen. Die Frage ist nun: Reicht Wücks Vertrauen in das bewährte Duo - oder öffnet er die Tür für Spielerinnen wie beispielsweise Hendrich, die durch ihre Erfahrung und das Tempo Stabilität bringen könnten oder Sophia Kleinherne? Schwachstellen können in der deutschen Hintermannschaft schnell ausgemacht werden. Da bringt auch irgendwann eine überragende Ann-Katrin Berger nichts mehr. Sie hat gegen Polen viel Sicherheit ausgestrahlt und konnte ihre ganze Klasse auf den Rasen bringen. Sie war sehr konzentriert und leitete einige Angriffe von hinten ein.
Fader Beigeschmack trotz Sieg
Der Auftaktsieg war zwar verdient und mit zwei Toren und drei Punkten wichtig, aber er hatte einen faden Beigeschmack. Denn irgendwie hing über allem auch das Wissen, dass sich Giulia Gwinn schwerer verletzt hat. Was sich dann auch leider bestätigt hat. Es ist für sie persönlich, aber auch für das Team ein sehr harter Schlag. Ich habe die persönliche Entwicklung von Giuli Gwinn mitverfolgt und die Art und Weise, wie sie gereift ist, ist beeindruckend. Sie ist längst mehr als nur eine dynamische Außenverteidigerin. Sie ist eine Führungsspielerin, eine, an der sich andere orientieren. Ihr Ausfall wird schwer zu kompensieren sein. Ein Lichtblick ist, dass Carlotta Wamser in dieser Situation, zumindest gegen Polen, schon mit ihrem unbekümmerten und frechen Aufspielen überzeugen konnte. Auch Wück sendete mit ihrer Einwechslung ein klares Signal und scheint sie als Vertretung von Gwinn zu sehen. Es spricht vieles dafür, dass Wamser in den kommenden Partien die Position übernimmt.
Deutschland ist also mit einem Sieg gestartet – das zählt. Die Offensive funktioniert in Ansätzen richtig gut, das Team wirkt gefestigt, der Geist stimmt. Aber: In der Defensive braucht’s ein bisschen Feintuning. Doch die Basis ist da und mit ihr die Hoffnung, dass dieses Turnier richtig Fahrt aufnimmt und erfolgreich wird. Ich freue mich auf viele intensive und interessante Spiele. Das wichtigste Turnier des Sommers hat begonnen.
Zur Autorin
Verena Schweers ist eine ehemalige Bundesliga- und Nationalspielerin. Ihre Profi-Karriere startete die Abwehrspielerin beim SC Freiburg, bevor es über den VfL Wolfsburg zum FC Bayern München ging. Mit den Wölfinnen gewann Verena Schweers sowohl zwei Mal die UEFA Women's Champions League als auch die Meisterschaft. Außerdem holte sie mit dem VfL den DFB-Pokal gleich dreifach. Für die A-Nationalmannschaft absolvierte die 36-Jährige 47 Länderspiele. 2020 beendete Verena Schweers ihre Karriere im Alter von 31 Jahren.
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