Warum Luxemburg zum neuen Island werden kann!
Von Guido Müller

Dieser Text ist ein Geständnis. Gestehen möchte ich mein bisheriges Unwissen über die luxemburgische Nationalmannschaft. Und das, obwohl ich mich seit ein paar Jahrzehnten eigentlich als Fußball-Experte bezeichnen würde. Gut, man kann - auch im eigenen Wissensgebiet - nie alles wissen - aber irgendwie scheine ich in den letzten Jahren eine gewisse Entwicklung im Fußball des Zwergstaates verpasst zu haben. Der Versuch einer Korrektur.
Früher auf dem Pausenhof, am Tag nach einem Länderspiel, wurde das abends zuvor Gesehene mit den Gleichgesinnten (und derer gab es in meiner Klasse einige) durchgekaut und analysiert. Sonderlich in die Tiefe ging das damals noch nicht.
Abkippende Sechser oder hängende Spitzen, echte Außen oder falsche Neuner, flache oder hohe Rauten - derartige Termini gab es damals noch nicht, als Jupp Derwall oder dessen direkter Nachfolger Franz Beckenbauer unsere DFB-Auswahl betreuten. Nicht mal die Mauer war zu diesem Zeitpunkt schon gefallen.
Die jeweilige Zergliederung der dargebotenen Leistungen der DFB-Kicker beschränkte sich somit zumeist auf die Tore (wenn denn welche fielen, was damals alles andere als garantiert war) oder irgendwelche sonstigen herausragenden Szenen.
Als die "Kleinen" nur Kanonenfutter waren
Und ganz marginal wurden auch die Ergebnisse "der anderen" kommentiert. Wobei hier schon einschränkend zu sagen wäre: die anderen waren die Länder, die mit uns auf Augenhöhe oder knapp darüber oder darunter waren.
Also die damals schon üblichen Verdächtigen: Spanien, Italien, Frankreich, England, Belgien oder Holland (um mal nur in Europa zu bleiben). Denn von den Spielen dieser Nationen bekam man, wenn man etwas Glück und genügend Sitzfleisch hatte (und die Eltern beide Augen zudrückten angesichts der vorgerückten Stunde), auch immer noch ein paar Szenen, dargereicht in ARD oder ZDF, zu sehen.
Länder wie Luxemburg, Liechtenstein, Island, Faröer, Andorra oder San Marino kamen aber selbst in diesen Schnipsel-Berichten nur sehr selten vor. Es interessierte einfach keinen, ob sie nun sechs oder sieben oder acht Tore gefangen hatten oder gar zweistellig abgefertigt worden waren.
Und wie so vieles, was in diesen prägenden Jahren auf uns eingewirkt hat, ist auch diese mentale Einteilung in "groß" und "klein" über Jahrzehnte hinweg unverändert geblieben.
Freilich wurde sie mit den Jahren etwas austarierter und differenzierter, mit Subgruppen (sehr groß oder sehr klein), die hinzukamen - aber in ihrer grundsätzlichen Struktur blieb sie bis heute unverändert.
Auch Dänemark war mal ein Fußball-Zwerg
Was natürlich auch daran liegt, dass es zu allen Zeiten eben große und kleine, sehr große und sehr kleine Fußballnationen gegeben hat. Nur ihre Namen haben sich im Laufe der Zeit verändert.
Dass zum Beispiel Dänemark 1984 an der Europameisterschaft in Frankreich teilnahm, war für meine Generation mindestens genauso sensationell, wie die Präsenz von Island beim europäischen Kräftemessen 32 Jahre später (und am selben Ort).
Heute würde wohl kaum einer Dänemark als "kleine Fußballnation bezeichnen". Preben Elkjaer Larsen, Flemming Povlsen, Frank Arnesen, Morten Olson, Michael und Brian Laudrup, Christian Eriksen oder Andreas Christensen stehen sinnbildlich für eine atemberaubende Entwicklung, die das kleine Land seitdem in Sachen Fußball (und auch auf anderen Gebieten) genommen hat - EM-Titel 1992 inklusive.
Doch im Vergleich zu anderen Staaten war Dänemark selbst in seinen Anfängen nie ein Fußball-Zwerg wie damals schon Liechtenstein, Andorra, Island - oder Luxemburg. Mit seinen (heute!) knapp sechs Millionen Einwohnern war und ist es geradezu ein Gigant im Vergleich zu genannten Staaten.
Dass indes selbst diese Kleinen unter den Kleinen, die absoluten Zwerge, irgendwann mal bei einem bedeutenden Turnier teilnehmen würden - für uns lag das vor knapp vierzig Jahren außerhalb jeglicher Vorstellungskraft.
Wer hätte 2016 mit Island im EM-Viertelfinale gerechnet?
Spätestens jedoch 2016 hätte auch der letzte wissen müssen: es gibt keine ganz Kleinen mehr. Oder zumindest nicht mehr so viele wie einst. Und selbst die absoluten Zwerge können mit den Jahren wachsen. Wirtschaftlich, sozial - und natürlich auch im Fußball.
Plötzlich waren nämlich die Isländer da. Aus eigener Kraft hatten sie es bis Frankreich geschafft. Und einmal zur großen europäischen Fußball-Party eingeladen, wollten die Newcomer dann auch nicht nur Gastgeschenke abgeben.
Zu spüren bekamen es zunächst, in den Gruppenspielen, die Österreicher, die nach der Vorrunde als einziges Team der Gruppe F die vorzeitige Heimreise antreten mussten. Und später, in der K.o.-Runde, die Engländer, denen selbst eine frühe Führung gegen die Wikinger nicht reichte.
Wenn man dann noch berücksichtigt, dass die "Eisländer" in der Summe etwa 360.000 Mann zählen, und das Großherzogtum Luxemburg mit fast dem Doppelten an Einwohnern (680.000) aufwarten kann, ist es eigentlich nur noch eine kleine Transferleistung, anzunehmen, dass auch unser westlicher Zwerg-Nachbar irgendwann in den kommenden Jahren bei einem Großturnier dabei sein wird.
Denn der demographische Wandel macht auch vor dem Mini-Staat, eingefercht zwischen Deutschland, Frankreich und Belgien, nicht Halt.
Wobei der Grund für den jüngsten Aufschwung des isländischen Fußballs nicht so sehr in der (immer bereichernden) Zuwanderung von außen begründet liegt, sondern in einem Systemwandel innerhalb der weiterhin sehr homogenen isländischen Gesellschaft.
Was wiederum nur beweist, dass es nicht immer nur den einen Königsweg zum Erfolg gibt. Die Isländer, geographisch ja nun mal etwas ab vom Schuss, begannen irgendwann, die Voraussetzungen den klimatischen Gegebenheiten anzupassen. Der Klimawandel mag das Seinige noch dazu getan haben.
In einem Land, das die meiste Zeit des Jahres (?) hinweg unter Eis und Schnee liegt, war es sinnvoll, Hallen zu bauen. Und sie bauten Hallen, die Isländer. Viele davon, verteilt über das ganze Eiland.
Wo früher monatelang nicht gespielt werden konnte, wird jetzt das ganze Jahr gekickt. Die Früchte dieser neuen Saat ernten die Isländer seit ein paar Jahren.
Klimatisch hatte es Luxemburg somit schon immer einfacher. Aber erst im Zuge der globalen Flüchtlingsströme konnte sich in dem Großherzogtum so etwas wie eine Fußball-Basis entwickeln.
Luxemburg: Beamtenlaufbahn wird Profi-Fußballertum vorgezogen
Denn es sind vor allem die Zugezogenen, die den Fußball in Luxemburg in den letzten Jahren auf ein neues Level gehievt haben. Der frühere Präsident des CS Grevenmacher, Jacques Plumer, erklärte die Gründe dafür einmal gegenüber dem Spiegel.
Seinen Landsleuten gehe es schlichtweg so gut, "dass eine Sportlerkarriere und der damit verbundene soziale Aufstieg für die meisten gar keinen Anreiz bieten. Sie werden lieber Beamte, denn unser Staat zahlt mit 4000 Euro im Monat die höchsten Beamtenlöhne der Welt."
Achtungserfolge in den Klub-Wettbewerben und beste WM-Quali des Jahrtausends
Das war im Jahr 2008. Vereinzelte Ergebnisse in den europäischen Klubwettwerben ließen in den folgenden Jahren immer mal wieder aufhorchen.
So schaffte es der F91 Düdelingen zweimal in Folge (2018/19 und 2019/20) sogar bis in die Gruppenphase der Europa League, in der man vor allem vor eigenem Publikum achtbare Ergebnisse gegen Teams wie den AC Mailand (0:1) oder den FC Sevilla (2:5) erzielen konnte.
Und auch auf Nationalmannschaftsebene ist allein in diesem Jahrtausend eine klare Aufwärtsentwicklung erkennbar. Kamen die Luxemburger in den bisherigen WM-Qualifikationen (ab 2002) nie über die 6 Punkte-Marke hinaus, stehen sie in ihrer aktuellen Qualifikationsgruppe vor dem letzten Spieltag mit 9 Punkten so gut wie noch nie da und könnten immerhin ein Team wie Irland hinter sich lassen.
In der luxemburgischen Auswahl geben mittlerweile Spieler wie Danel Sinani (mit serbischen Wurzeln), Yvandro Borges Sanches (Kap Verden), die portugiesisch-stämmigen Leandro Barreiro und Christopher Martins Pereira oder der Star des Teams, Gerson Rodrigues (ebenfalls mit portugiesischen Wurzeln) von Dinamo Kiew den Ton an.
Unterstützt werden sie von immer mehr luxemburgischen Talenten wie den Thill-Brüdern, von denen der eine (Sebastien) unlängst sogar in der Champions League für Furore sorgte. Mit seinem Knaller in der Schlussminute sorgte der offensive Mittelfeldspieler erst vor Kurzem für den sensationellen Sieg von Sheriff Tiraspol bei Real Madrid.
Für Katar 2022 wird es indes, trotz des besten Abschneidens in einer WM-Quali in diesem Jahrtausend, nicht mehr reichen. Doch meine Prognose steht: in den nächsten fünf Jahren wird sich Luxemburg für mindestens ein Großturnier qualifizieren. Ob es dann auch wieder ein "Huh", diesmal intoniert aus Tausenden Luxemburger Kehlen, geben wird, bleibt abzuwarten.