Von der Quadratur des Kreises: Der HSV muss "kleiner" werden, um irgendwann wieder "groß" sein zu können!

Pool/Getty Images
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Wieder einmal steht der Hamburger SV vor einem Neuanfang. Die alte (erfolglose) Saison wird verabschiedet und mit ihr auch gleich der Cheftrainer. Spieler werden den Klub verlassen, andere neu hinzustoßen - und über allem schwebt die immer diffuser werdende Erinnerung an bessere Zeiten.

Doch - halt: irgendwie muss jetzt ja mal ein Schalter umgelegt werden. So wie in den vergangenen Jahren kann es schließlich nicht weitergehen, denn dieser Weg hat den Klub mittlerweile dahin geführt, wo er jetzt steht: im oberen Drittel der Zweiten Bundesliga.

Viel ist in den letzten Wochen über den HSV und seine inhärente(n) Problematik(en) gesprochen und geschrieben worden. Einen sehr lesenswerten Beitrag fand ich dieser Tage in der Rautenperle. Gastautor Dr. Olaf Ringelband, Professor für Psychologie an der Universität Hamburg (und HSV-Fan, trotz allem!), greift in seinem Artikel bereits auch von mir genannte Stichworte (Wohlfühloase, Leistungskultur) auf und setzte diese dann in einen konkreten Bezug zum Klub aus dem Volkspark.

Wohlfühloase HSV

Schon oft hat man sich rund um den HSV die Frage gestellt: warum werden - gefühlt - so viele Spieler, die zum HSV kommen, schlechter? Warum ist es möglich, in Vereinen mit aktuell weitaus höheren sportlichen Ambitionen eine dementsprechende Leistungskultur zu implementieren, an der sich scheinbar alle halten, während bei man bei uns des öfteren das Gefühl hat, dass die Spieler (ob neu oder alt) irgendwann anfangen, nur noch Dienst nach Vorschrift zu machen, quasi eine Art Beamtenmentalität (nichts gegen die öffentlich Beschäftigten, es gibt sicher auch viele löbliche Beispiele) beginnen an den Tag zu legen? Für Ringelband hat dies eine logische Erklärung: "Menschen definieren ihre eigenen Leistungserwartungen häufig am Maßstab der Menschen um sie herum. Das kennt mancher schon aus der Schule: wenn die Freunde alle 4er-Schüler sind, fühlt man sich mit einer “3” schon gut, während man mit lauter 1er-Schülern um sich herum eine “3” relativ schlecht anfühlt. In großen Vereinen ist das Leistungsniveau so hoch, dass das automatisch ein Ansporn für jeden Spieler ist." Denn - wer in solchen Klubs längere Zeit dem Mannschaftsniveau hinterherläuft, wird bei erstbester Gelegenheit aussortiert.

Das Problem: um beim HSV wegen fehlender Qualität aussortiert zu werden, muss man schon wirklich schlecht sein. Nicht nur schlechter, als es das potentielle Leistungsvermögen hergibt (denn das gilt ja für fast alle im Kader), sondern viel, viel schlechter. Und so ist es in diesem Konstrukt halt möglich, quasi permanent unter dem eigenen Leistungsvermögen zu bleiben, ohne damit negativ hervorzustechen. Interessanterweise belegen statistische Werte diese These: in puncto Laufbereitschaft, Passquote und Ballbesitz gehört der HSV zum Spitzenfeld der Liga. Doch jeder, der mal Fußball gespielt hat, weiß: ich kann meine Kilometer abspulen und trotzdem dem Team nicht helfen.

Denn es kommt nicht darauf an, dass man läuft (denn das gehört sowieso zu den Grundvoraussetzungen dieses Sports), sondern wie. In welche Räume ich vorstoße. Und mit welcher Intensität. Und ich welcher Häufung. Zudem bringt es eben nicht so viel, eine Passquote von über 90 Prozent zu haben (wie über weite Strecken in den meisten Spielen dieser Saison), wenn die meisten dieser Pässe zwischen den beiden Innenverteidigern und dem Torwart hin-und hergepasst werden. Unter Stress setzt man den Gegner mit dieser Art zu spielen sicherlich nicht. Und in dieselbe argumentative Richtung kann man auch beim Komplex Ballbesitz gehen, der ja letztlich nur das sichtbare Produkt der Passgenauigkeit ist.

Viel aussagekräftiger erscheint da die Kategorie Zweikampfverhalten. Unter den ersten fünfzig Spielern der Liga erscheinen hier lediglich zwei HSV-Spieler: Timo Letschert und Gideon Jung. Was zu der Vermutung führt: in den Feigenblatt-Kategorien, also in denen, die nicht zwangsläufig etwas über die Stärke einer Mannschaft aussagen, liegt der HSV relativ weit vorne - um in der Sparte, die einen klareren Blick auf den Charakter einer Mannschaft erlaubt, relativ sang-und klanglos abgeschlagen im Hinterfeld der Liga zu landen. In Worten des Psychologen: es fehlte "der Wille, nicht nur nicht schlecht dazustehen, sondern zu gewinnen."

Leistung kann nur kommen, wenn sie von den Verantwortlichen auch eingefordert wird

Blickt man jetzt aber wiederum auf die Ursachen einer solchen "Nicht-Leistungskultur", kommt man zwangsläufig zu den verantwortlich Handelnden im Klub. Also zu denen, die eigentlich voranschreiten müssten und mit ihren Vorgaben den Weg für die Spieler vorgeben müssten. Doch haben sich in den vergangenen Jahrzehnten leider keine solche Strukturen entwickeln können. Die hohe Fluktuation beim HSV, nicht nur auf der Trainerbank, hat dafür gesorgt, dass sich seit Ewigkeiten keine glaubhafte Führungskraft, in wen auch immer delegiert, durchsetzen konnte. Der Verein war in den letzten Jahren quasi Dauergefangener in einer ewigen Spirale aus großen Ankündigungen, ernüchternden realen Begebenheiten und daraus resultierenden Neuanfängen. Und das fast im jährlichen Rhythmus.

Natürlich kann ein Verein mit der Vita eines HSV (wenngleich diese schon Patina angesetzt hat) sich jetzt nicht von heute auf morgen hinstellen und sagen: wir wollen einfach mal mitspielen in dieser Liga 2 und möglichst schnell aus den Abstiegsnöten raus sein. Doch ist er auch nicht gezwungen, quasi reflexhaft seinen Anhängern alljährlich zu vermitteln, wie falsch doch die gegenwärtige Liga sei und wie schnell (eigentlich sofort!) man doch bitte in sein angestammtes Habitat (sprich: Bundesliga) zurückkehren wolle.

Einfach mal weniger ankündigen, und mehr machen - vor allem auf dem Platz!

Nein! Der HSV ist nicht am falschen Ort, sondern spielt momentan genau in der Liga, die seiner Qualität entspricht. Wer das, jetzt wo das dritte Jahr Zweitklassigkeit bevorsteht, immer noch nicht kapiert hat, wird es wohl auch nicht mehr kapieren. Und keiner verlangt vom HSV, dass er jetzt sich mit Vereinen wie Braunschweig oder Würzburg (um nur mal die beiden fixen Aufsteiger aus der Dritten Liga zu benennen) vergleicht. Doch sollte er aber auch das A-Wort einfach mal für ein paar Monate nicht in den Mund nehmen. Wenn es am Ende dann besser läuft, um so schöner. Jetzt wäre es an der Zeit, einfach mal ganz banale Dinge einzufordern. Wie z.B. eine Mannschaft auf den Platz zu schicken, die brennt, die nicht nach sechzig oder siebzig Minuten das Fußballspielen einstellt. Eine Mannschaft aus nicht gesättigten, noch hungrigen, jungen Spielern, für die der HSV eben nicht das Ende der Fahnenstange ist, die sich aber gleichwohl mit der neuen Philosophie anfreunden können.

In diesem Sinne habe ich die ersten Gerüchte, sowohl was die Trainer-Frage als auch die Verpflichtung von neuen Spielern betrifft, genauestens verfolgt. Mit den Kandidaten auf eine Nachfolge von Dieter Hecking kann ich leben. Persönlich würde ich zu Dimitrios Grammozis tendieren, weil dieser bereits den Klub von innen her kennt und mit Darmstadt 98 einen beeindruckenden Job gemacht hat. Bei den ersten Namen für Verstärkungen musste ich bei Robin Knoche schon einmal kurz schlucken: Fast erscheint mir dieses Regal schon ein bisschen hoch. Wenn es doch klappen sollte (und auch finanziell kein Harakiri bedeutet) würde ich mich um so mehr freuen. Zusammen mit Lasse Sobiech, der auch gehandelt wird, hätte man dann schon die Hälfte der Innenverteidigung beisammen. Auch ein Manuel Schäffler (hinter Fabian Klos der beste Torschütze der abgelaufenen Zweitliga-Saison) passt für mich in das neue Beuteschema.

Insgesamt also eigentlich alles beim alten beim HSV. Und doch hat der Klub in diesem Sommer die große Chance, sich neu aufzustellen, sich neu zu orientieren, um endlich aus dem Teufelskreis herauszukommen. Nämlich regelmäßig als Ankündigungsriese wahrgenommen zu werden, um am Ende als Umsetzungszwerg bedauert oder gar verhöhnt zu werden. Dass dieser Weg kein leichter sein wird, ist ebenfalls klar. Doch er ist eigentlich alternativlos, wenn der HSV jemals wieder bessere Zeiten erleben will.