Kommentar | Joachim Löw im Kreuzfeuer

Steht mehr und mehr allein vorne an der Front
Steht mehr und mehr allein vorne an der Front / DeFodi Images/Getty Images
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Was haben Angela Merkel und Joachim Löw gemeinsam, außer der Frisur? Sie beide werden von ihren Kritikern tagtäglich aufs Härteste in den sozialen Medien angefeindet. Vor allem bei Joachim Löw hat sich der Wind seit 2018 um 180 Grad gedreht. Davor war er doch der gefeierte Weltmeistertrainer, der die deutsche Nationalmannschaft endlich wieder auf den Thron der Welt hievte. Heute wird jeder Schritt, jede Aufstellung, jede Einwechslung und sogar jede Handberührung an seinem Körper aufs Kritischste beäugt. Ist das denn gerecht, wie so mancher "Fan" mit Joachim Löw umgeht? Muss der Freiburger wirklich gehen? Sind seine Entscheidungen nachvollziehbar?

Was ist Löws Plan momentan?

Vergleicht man die DFB-Spiele von heute mit der Zeit zwischen 2010 und 2018, werden einige markante Unterschiede klar. Zu Anfang des Jahrzehnts spielte die Mannschaft mit dem Bundesadler einen einschnürenden und erdrückenden Ballbesitzfußball. Der Gegner wurde zu Tode gespielt, ständige Seitenwechsel, dauerndes Klatschenlassen der Flügelspieler und des Zehners waren an der Tagesordnung. So lange, bis sich die Lücke im gegnerischen Abwehrverbund auftat. Mit Spielern wie Özil, Müller, Draxler oder auch Schweinsteiger hatte man dafür die optimalen Kicker. Mit Klose war bis 2014 ein echter Stürmer vorne drin, ab 2014 übernahm dann Gomez konstant diesen Job.

Er war das Herzstück des "Systems Löw", zwischen 2010 und 2018
Er war das Herzstück des "Systems Löw", zwischen 2010 und 2018 / Martin Rose/Getty Images

Heute ist das ganze System über den Haufen geworfen worden. Mit dem Vorrunden-Aus 2018, dem Aussortieren von Özil, Khedira, Müller, Boateng und Hummels brach eine komplette Achse weg. Aktuell ist Essig mit Ballbesitzfußball, Löw setzt auf blitzschnelle Konter über die Außen. Einen echten Neuner vorne drin hat er momentan nicht zur Verfügung. Gerade der häufig von Fans in den Kader geforderte Müller musste darunter leiden. Müller ist ein Phänomen, ein Fußballer, den du nie aus den Augen verlieren darfst. Der waschechte Bayer pendelt immer zwischen den gegnerischen Abwehrketten. Dieses Pendeln fällt momentan weg, da die Deutschen meistens mit viel Tempo und Dynamik über die Flügel angeflogen kommen.

Sané, Gnabry und Werner sind dafür genau richtig; Müller ist dafür aber trotz seiner enormen Qualität eher weniger geeignet. Im bevorzugten System von 4-3-3 ist für Müller nirgends Platz um seine Stärken auszuspielen. Der schlaksige Münchner gehört auf die Zehn und diese gibt es in der Nationalelf momentan nicht. So manch einer würde sagen: "Dann ändert doch einfach auf 4-2-3-1, Löw ist einfach blind." Naja auch das ist schwierig, denn bei einem 4-2-3-1-System bräuchte man nötigst einen echten Mittelstürmer, mit dem Müller harmonieren kann. Einen solchen hat Deutschland momentan nicht in Weltklasseformat und Werner würde man als alleinige Spitze aller Stärken berauben.

Die Nummer 13 prägte fast ein Jahrzent die deutsche Offensive
Die Nummer 13 prägte fast ein Jahrzent die deutsche Offensive / VI-Images/Getty Images

Fazit im Fall Müller: Müller ist nach wie vor Weltklasse und gehört eigentlich in jede Nationalmannschaft der Welt, ABER auch nach der WM wirkte Müller wie ein kompletter Fremdkörper. In das gerade erwähnte System passt der 31-Jährige nicht rein. Und da wäre noch ein anderer Punkt... Müller ist ein absoluter Lautsprecher und hat viel zu sagen im Team, vielleicht sieht Löw auch durch ihn seine eigene Position und den Teamfrieden in Gefahr. Das kann man aber nur vermuten. Der Fall Müller wäre aber auch über das System zu erklären.


Die gleiche Frage stellt sich auch bei Mats Hummels und Jerome Boateng. Beide sind über 30, aber gehören definitiv nicht zum alten Eisen. Auch hier hat Löw klar ein Zurück ausgeschlossen. Sinnvoll oder einfach nur stur? Sehr schwierig, das zu beurteilen. So deutlich wie bei Müller zu erklären, ist hier nicht möglich. Am System kann es nicht liegen, gerade ein 4-3-3 ist wie geschaffen für die beiden Hünen. Und auch ihre individuelle Klasse ist wohl höher einzuordnen als die von Ginter und Rüdiger. Lediglich Niklas Süle kann den beiden auf Augenhöhe begegnen.

Champions League Titel: Ja, EM-Teilnahme: Wohl nicht
Champions League Titel: Ja, EM-Teilnahme: Wohl nicht / Pool/Getty Images

Hier liegt wohl der Schlüssel in der Persönlichkeit der beiden und beim Alter. Beide waren über Jahre hinweg Stammspieler und hochgeschätzt bei Löw und seinem Trainerteam. Beide sind Jahrgang 1988 und würden wahrscheinlich nur noch die EM mitspielen, bei der Winter-WM 2022 wäre beide 34. Löw setzte beiden Karrieren im Zuge des Umbruchs ein vorzeitiges Ende, einen Gefallen hat er sich damit definitiv nicht getan.

Fazit im Fall Hummels und Boateng: Diese Entscheidung hat sich Löw sicher nicht einfach gemacht, aber mit seiner momentan sehr unpopulären Entscheidung, die beiden nicht zu berufen, gibt er anderen Spielern die Möglichkeit, eine neue Ära aufzubauen. Selbstredend haben Koch (24), Tah (24) oder auch Uduokhai (23) kein internationales Top-Format, sind aber echte Versprechungen. Hummels und Boateng waren in diesem Alter schon weiter, leider hat man aber auch in Deutschland nicht immer nur Superstars zur Verfügung. Diese Entscheidung bleibt definitiv sehr umstritten. Löws mögliche Intensionen sind nachvollziehbar, aber womöglich in der aktuellen Situation nicht zielführend.

Dass Löw mit aller Kraft die Tür zuhält und den Schlüssel wegwirft, kostet ihn Sympathien bei den Fans. Im Endeffekt weiß aber keiner was hinter den Kulissen alles vorgefallen ist. Dass Löw eine klare Vorstellung der Charaktere hat, die er gerne in seiner Mannschaft möchte, ist klar. Dieser Stil ist aber seit seinem Amtsantritt 2007 allen bekannt.

Fazit

Löw setzt nicht nur auf individuelle Klasse, sondern auch darauf, ob ihm die Spieler in den Kram passen - gehörst du nicht dazu, bist du raus! Eine fragwürdige Taktik, aber dem ehemaligen Stuttgart-Trainer muss man zu Gute halten, dass er mit diesem Stil bis auf 2018 immer hervorragend durch die Turniere gekommen ist. Und das häufig trotz deutlich schlechteren Kaders im Vergleich zur Konkurrenz. Skepsis und Kritik? Ja bitte! Anfeindungen und Hasstiraden? Auf keinen Fall! Das Ziel muss es sein, nächstes Jahr eine tolle EM zu spielen und das ist nicht möglich, wenn pausenlos schlechte Stimmung verbreitet wird. Dies geschieht häufig selbst bei guten Leistungen und solch ein Verhalten lässt kein Team der Welt komplett kalt...