Jamal Musiala: Bambi mit Magnetenbeinen

Dank Jamal Musiala haben die Profis beim FC Bayern München vermehrt Grund zum Jubeln.
Dank Jamal Musiala haben die Profis beim FC Bayern München vermehrt Grund zum Jubeln. / Matthias Hangst/Getty Images
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Volljährig ist Jamal Musiala erst seit Februar 2021. Schon jetzt ist er weit mehr als ein Ergänzungsspieler für den FC Bayern. Was zeichnet ihn aus, woran kann er noch arbeiten und wie landete der Jungprofi mit dem deutschen und englischen Pass bei einem der besten Vereine der Welt?


Am 26. Februar 2003 kommt Jamal Musiala als Sohn eines Nigerianers und einer Deutschen mit polnischen Wurzeln in Stuttgart zur Welt. Seine ersten Schritte auf dem Fußballplatz macht er im Alter von 4 Jahren bei der TSV Lehnerz in Fulda. Wenn seine früheren Jugendtrainer heute gefragt werden, wie der junge Musiala denn war, fallen häufig Wörter wie "höflich", "wissbegierig" und "aufgeschlossen".

Die ersten sieben Jahre seines Lebens verbringt Musiala in Deutschland, dann bietet sich seiner Mutter die Möglichkeit, an einem viermonatigen Erasmusprogramm in England an der Universität Southampton teilzunehmen. Die Familie zieht um. Noch ist allerdings nicht klar, ob man langfristig in England bleiben wird. Auch wenn er anfangs überhaupt kein Englisch spricht, widmet sich der kleine Jamal auf der Insel weiterhin seiner großen Passion: dem Jagen nach dem Ball mit seinen Kameraden. Musiala liebt das Dribbeln, seine Gegenspieler lässt er schon damals stehen wie Slalomstangen.

In der Jugend beim FC Chelsea

Musiala spielt für die Jugendmannschaft des FC Southampton. Nach den vier Monaten kehrt die Familie nach Fulda zurück - jedoch nur kurzfristig. Musialas Mama hat Gefallen an England gefunden, sieht sich nach Jobs und Wohnungen in London um und wird schließlich fündig. Ihre neue Arbeitsstelle ist nicht allzu weit weg vom Trainingsgelände des FC Chelsea, der wie der FC Arsenal bereits zuvor um Jamal Musiala geworben hat, und für den sich die Familie letztlich entscheidet.

Im Trikot der Blues spielt sich Musiala auch in den Fokus der Junioren-Nationalmannschaften. Er absolviert mehrere Länderspiele für die englische U15, U16, U17 und später auch zwei Partien für die U21 der "Three Lions". Im Oktober 2018 bestreitet er sogar zwei Länderspiele für die deutsche U16, doch in der Jugend tendiert er zu den englischen Auswahlteams.

Musiala ist nicht nur mit dem FC Chelsea erfolgreich, sondern auch mit seiner Schulmannschaft. Bei einem Turnier an der Anfield Road wird er zum besten Spieler und besten Torschützen ausgezeichnet. Mit Jordan Henderson und Lucas Leiva überreichen ihm zwei Profis in Diensten des FC Liverpool die Preise. In seiner Schulzeit soll Musiala sich sogar in der koreanischen Kampfkunst Hapkido versucht haben.

Musialas Rückkehr nach Deutschland

2019 kehrt die Familie Musiala nach Deutschland zurück, auch der Brexit soll ihre Entscheidung beeinflusst haben. Zu diesem Zeitpunkt ist der FC Bayern München auf der Suche nach einem talentierten Flügelspieler. Wunschkandidat ist Callum Hudson-Odoi, der schon Einsätze für die Profimannschaft vorweisen kann und zweieinhalb Jahre älter als Musiala ist. Weil die Londoner Hudson-Odoi behalten wollen, kommt Musiala ins Spiel, dessen Talent auch den Bayern nicht verborgen geblieben ist.

""Jeder bei Chelsea wusste, wie gut Musiala war. Er spielte acht Jahre in der Jugend und war auf einem guten Weg, Profi zu werden - ähnlich wie Hudson-Odoi.""

Nizaar Kinsella

Der gut vernetzte englische Reporter Nizaar Kinsella bemerkte gegenüber Goal.com : "Jeder bei Chelsea wusste, wie gut Musiala war. Er spielte acht Jahre in der Jugend und war auf einem guten Weg, Profi zu werden - ähnlich wie Hudson-Odoi." Kinsella zufolge habe Bayern sehr gut gescoutet und ihm einen sehr guten Vertrag geboten. "Sie waren sehr geschickt, sehr schnell - Musiala war dann der Meinung, sich in Deutschland besser entwickeln und schneller zum Profi reifen zu können", betont Kinsella. Zudem soll Musiala bereits als Kind Sympathien für den deutschen Rekordmeister gehabt haben.

Schnell ist Musiala zu gut für die Münchner U17, kurz darauf eine Nummer zu groß für die U19. Im Frühsommer 2020 läuft er schon für die zweite Mannschaft des FC Bayern auf, die damals ein Spitzenteam der 3. Liga stellt. Als Musiala am 20. Juni 2020 im Spiel gegen den SC Freiburg sein Debüt für die Profis feierte, wird er in der 88. Spielminute für ein Münchner Urgestein eingewechselt: Thomas Müller, der im August 2008 sein Bundesligadebüt gab, als Musiala fünf Jahre alt war.

Einer größeren Öffentlichkeit ist Musiala allerdings erst seit gut einem Jahr bekannt. Beim Bundesliga-Eröffnungsspiel gegen den FC Schalke 04 erzielte er als Joker den 8:0-Endstand und avancierte somit zum jüngsten Torschützen in der Bundesliga-Geschichte des FC Bayern.

Die Stärken von Musiala auf dem Platz

In seiner ersten kompletten Profi-Saison 2020/2021 hat Musiala bereits eine beachtliche Rolle inne und ist weit mehr als der typische Jungspund, dessen Reaktionsvermögen nicht an das gestandener Spieler heranreicht. Musiala hat eine schnelle Auffassungsgabe, ein Gespür für freie Räume und am beeindruckendsten ist seine Fähigkeit, mit dem Ball am Fuß abrupt die Richtung zu wechseln. Elegant schlängelt er sich im gegnerischen Strafraum entlang an seinen verdutzten Gegenspielern. Es wirkt fast so, als ob er vorhabe, mit seinen Füßen imaginäre Serpentinen in den Rasen zu zeichnen.

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Musiala erzielt beim 8:0-Sieg gegen den FC Schalke 04 sein erstes Bundesliga-Tor. / CHRISTOF STACHE/Getty Images

Musiala ist in der Lage dazu, extrem eng den Ball zu führen und im gegnerischen Sechzehner Lücken zu reißen, wo eigentlich kein Durchkommen sein sollte. Von seiner Kreativität auf engstem Raum profitieren die Bayern insbesondere gegen tief stehende Gegner und eng gestaffelte Abwehrketten. Mit zahlreichen "kleinen", subtilen Ballberührungen lässt Musiala des Öfteren Verteidiger ins Leere laufen. Im American Football würde man sagen, Musiala sei "elusive", sprich schwer zu greifen.

"Jamal Musiala mit legalen Mitteln auf dem Fußballplatz zu stoppen ist ungefähr so leicht, wie ein Rehkitz mit bloßen Händen zu fangen", schrieb jüngst der Tagesspiegel. Das ist nicht nur eine Anspielung auf Musialas Spiznamen "Bambi", den Leroy Sane ihm verpasst hat, sondern eben auch die knallharte Realität für die Abwehrspieler der Republik.

Auch sein schwächerer linker Fuß ist technisch gut ausgebildet. Am liebsten sucht er jedoch den Abschluss mit seinem rechten Fuß, in der Regel wenn er aus dem Halbraum kommend nach innen zieht. Ob er in der Startelf steht oder eingewechselt wird, scheint darüber hinaus seine Leistung und Lust nicht zu beeinflussen.

Im Passspiel außerhalb des gegnerischen Sechzehners kann er sich jedoch noch verbessern. Die Fähigkeit vom Flügel ins Zentrum zu flanken, würde sein Spiel noch variabler machen. Außerdem muss er lernen, wann es Sinn macht, ein Dribbling zu versuchen und an welchen Orten auf dem Feld das Risiko dafür zu groß ist.

In der Arbeit gegen den Ball hat er sich verbessert. Im Pressing jagt er mit hoher Energie dem Ball hinterher. Trotz seiner Statur ist er fähig, Zweikämpfe zu gewinnen. Dank seiner Reaktionsschnelligkeit kann er aber genauso gut Pässe abfangen und dann muss er sich seine Stutzen auch nicht schmutzig machen. Unterm Strich überwiegen seine Stärken definitiv seine Schwächen.

Der Mittelfeldspieler ist kein Stratege wie Kimmich und kein klassischer Flügelspieler wie Arjen Robben oder Franck Ribery, die viel Anlauf benötigten für ihre Dribblings. Musiala kann aus dem Stand heraus in Eins-gegen-Eins-Duelle gehen und ist variabel einsetzbar. Er kann als Rechtsaußen, Linksaußen und im zentralen offensiven Mittelfeld spielen. Als Joshua Kimmich im Herbst 2020 verletzt ausfiel, absolvierte Musiala sogar ein paar Partien auf der Achter-Position.

Musialas Fortschritte durch Neuro-Athletik-Training

Er paart Ballsicherheit mit großartiger Balance. Trotz seines schmächtigen Körpers ist es sehr schwer, ihn aus dem Rhythmus zu bringen. Musiala verdankt seine Rumpfstabilität auch einer speziellen Trainingsmethode: dem Neuro-Athletik-Training.

Musiala hat mit Steffen Tepel einen Privat-Trainer engagiert, der ihm mit Übungen für Gehirn und Augen dabei hilft, auf dem Rasen noch agiler und gedankenschneller zu werden. Im Interview mit Spox gab Tepel einen Einblick in seine Arbeit. Als Beispielübung nannte er das Dribbeln ohne dabei den Ball anzusehen. Stattdessen solle man einen Punkt in der Ferne mit den Augen fixieren, wodurch man sein peripheres Sehen verbessern könne.

Tepel erklärte, dass er mit Musiala anfangs vor allem an dessen "reflexiver Stabilität" gearbeitet habe. Bedeutet: Die Fähigkeit, im Zweikampf auch mit körperlich stärkeren Spielern gegenzuhalten, um auch unter starkem Gegnerdruck den Ball kontrollieren zu können. "Das lässt sich unter anderem durch Training des Gleichgewichtsorgans und der Augenmotorik verbessern", sagte Tepel.

Entscheidend für die Stabilität im Zweikampf sei die Mitte des Körpers. "Ist diese stabil, kann mich niemand so schnell wegschieben. Deshalb war Bauch- und Rückenmuskeltraining für Fußballer schon immer ein wichtiger Bestandteil. Und bei Jamal sieht man, dass er mit Checks und Tacklings sehr gut zurechtkommt, obwohl er auf den ersten Blick eher etwas schmächtig wirkt", ergänzte Tepel. Genau wie Robert Lewandowski lässt Musiala des Weiteren sein Schlafverhalten analysieren.

Musialas jugendliche Unbekümmertheit, seine Spielfreude und die Kombination aus Tempo und Torinstinkt sind schlicht Elemente, die die Bundesliga enorm bereichern und selbstverständlich auch den deutschen sowie englischen Bundestrainer auf den Plan gerufen haben. Als Besitzer beider Staatsbürgerschaften steht der Jungprofi im Frühjahr 2021 vor der Wahl und entscheidet sich letztlich für Deutschland. Eine kleine Überraschung, hat er doch in der Jugend überwiegend für England gespielt.

Musialas Entscheidung pro DFB-Elf

Im Gespräch mit Spox begründet Musiala seine Entscheidung: "Ich habe ein Herz für Deutschland und ein Herz für England. Beide Herzen werden immer weiter schlagen. Am Ende habe ich auf mein Gefühl gehört, dass es die richtige Entscheidung ist, für mein Geburtsland Deutschland zu spielen."

Inzwischen hat der gebürtige Stuttgarter acht Länderspiele mit dem Adler auf der Brust bestritten. Bei seiner Premiere gegen Island im März 2021 ist er mit 18 Jahren und 27 Tagen der jüngste DFB-Spieler seit Uwe Seeler 1954. Bei der diesjährigen Europameisterschaft kommt er unter Trainer Joachim Löw allerdings nur zu zwei Kurzeinsätzen (gegen Ungarn und England). Viele Beobachter hätten es begrüßt, wenn Löw bei der EM mehr auf Musiala gesetzt hätte. Unter Neu-Bundestrainer Hansi Flick, der ihn bereits beim FC Bayern trainierte, soll er aber zu einem Schlüsselspieler der Zukunft aufgebaut werden.

Beim 3:2-Auswärtserfolg gegen den VfL Wolfsburg im April 2021 schnürt er einen Doppelpack, wobei dem schmächtigen 1,80 Meter Mann sogar ein Kopfballtor gelingt. Insgesamt bringt es die Rückennummer 42 des FC Bayern auf 32 Bundesligaspiele, in denen er 8 Tore und 3 Vorlagen verzeichnet hat - Tendenz steigend. In der laufenden Saison stehen für Musiala zwei Tore und zwei Assists zu Buche in nur 168 Minuten Einsatzzeit.

Selbst in der Champions League scheut sich der 18-Jährige nicht vor großen Momenten und sucht selbstbewusst Eins-gegen-Eins-Duelle, die er auch überaus erfolgreich abschließt. Exzellente Passspieler gibt es auf höchstem Niveau in einer Vielzahl; Kicker wie Musiala, die konstant Eins-gegen-Eins-Duelle gewinnen können, sind dagegen rar - und gefragt.

Der FC Bayern kann sich glücklich schätzen, den noch entwicklungsfähigen Musiala in seinen Reihen zu haben. Und das soll auch so bleiben; die Bayern-Funktionäre haben den Vertrag mit dem Kreativspieler eine Woche nach dessen 18. Geburtstag bis 2026 verlängert. Nicht zu Unrecht wird er als größtes Talent beim FC Bayern seit David Alaba bezeichnet.

Aus dem 2003er Jahrgang streiten sich aktuell Jude Bellingham (Borussia Dortmund), Florian Wirtz (Bayer 04 Leverkusen) und Musiala darum, wer denn der Weltbeste aus ihrer Altersklasse sei. Alle drei galten als Versprechen an die Zukunft, als sie verpflichtet wurden, sind aber schon in der Gegenwart prominente Gesichter der Bundesliga. Mit dem Engländer Bellingham ist Musiala im Übrigen befreundet.

Müller, Matthäus und Nagelsmann voll des Lobes

Bei den Fabelleistungen verwundert es nicht, dass Mitspieler, Trainer, ehemalige Spieler, Experten und Journalisten von den Qualitäten des Youngsters schwärmen und ihm eine fabelhafte Karriere prophezeien. Beim 4:1-Sieg der Bayern bei RB Leipzig vor wenigen Wochen steuert Musiala ein Tor und eine Vorlage bei. "Jamal ist heute der Zauberer des Spiels gewesen", lobt Müller anschließend seinen Kollegen im Sky-Interview. Müller wird zudem gefragt, ob er Musiala beim Dribbling noch Tipps geben müsse. Lächelnd antwortet der Nationalspieler: "Das frage ich eher ihn."

Abgeschaut hat sich Musiala den ein oder anderen Trick vermutlich auch von seinem Vorbild Neymar. Der Weltfußballer von 1991 und heutige Sky-Experte Lothar Matthäus sieht Neymar auf einem elitären Leistungslevel, das er auf lange Sicht auch Musiala zutraut: "Neymar ist kein schlechtes Vorbild. Wenn er die guten Dinge beherrscht, kann er ein zweiter Neymar werden. Das traue ich ihm zu", so Matthäus. Charakterlich aber scheint Musiala weniger mit Neymar gemeinsam zu haben. Er ist kein Heißsporn und regt sich nicht über Fouls auf, selbst wenn sich Verteidiger nur mit unfairen Mitteln zu helfen wissen, um ihn zu stoppen.

" "Er ist keiner, der sich abfeiert für gute Leistungen, sondern einer, der mehr will""

Julian Nagelsmann über Jamal Musiala

Auch Bayerns Trainer Julian Nagelsmann zollt seinem Schützling Anerkennung: "Ich habe schon einige Nachwuchsspieler gehabt, doch er ist schon außergewöhnlich - was seine Fähigkeiten, aber auch was seine Charakterzüge angeht. Er ist sehr demütig, will arbeiten und hört zu. Und auch nach so einem Spiel hast du nie das Gefühl, dass er jetzt abgehoben ist", sagt der 34-Jährige. Bereits nach dem 5:0-Sieg gegen Hertha BSC Berlin hat Nagelsmann Musialas Charakter hervorgehoben. "Er ist keiner, der sich abfeiert für gute Leistungen, sondern einer, der mehr will", so der Cheftrainer.

Aber auch fußballerisch redet Nagelsmann nur in den höchsten Tönen von Musiala: Nach dem 12:0-Sieg im DFB-Pokal gegen den Fünftligisten Bremer SV sagte der Coach bei Sport1. "Er hat auch eine Fähigkeit, dass der Ball immer wieder in seinen Füßen landet, auch beim Pressschlag, als hätte er einen Magnet zwischen den Beinen." Das Bambi mit den Magnetenbeinen. Ob solche Exemplare auch im Wald anzutreffen sind?

Noch immer wird Musiala vom FC Bayern behutsam aufgebaut, in manchen Spielen wie zuletzt gegen den VfL Bochum muss er auf der Bank Platz nehmen. Es geht darum, dem Wirbelwind Erholungspausen zu gönnen. Belastungssteuerung heißt das Stichwort und vielleicht steckt auch die Überlegung dahinter, den Hype wieder auf andere Spieler zu verteilen, die sich in den Vordergrund spielen können, wenn Musiala die (Magneten-)beine mal hochlegen kann.