90min diskutiert: Ist Emre Can beim BVB Führungsfigur oder Mitläufer?

Ist Emre Can beim BVB Mitläufer oder Führungsfigur?
Ist Emre Can beim BVB Mitläufer oder Führungsfigur? / 90min
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Seine Verpflichtung im Winter 2020 wurde als Transfercoup des BVB gefeiert. Doch nach starkem Beginn hat Emre Can immer weiter nachgelassen, seine Leistungen ließen zuletzt des Öfteren zu wünschen übrig. Auch im schwarz-gelber Fanlager gibt es mittlerweile einige kritischen Stimmen gegenüber dem deutschen Nationalspieler, der vor allem aufgrund seiner Mentalität (das eigentlich verbotene Wort in Dortmund) heraussticht.

90min diskutiert: Ist Emre Can Leistungsträger und Verstärkung für das BVB-Team? Oder - etwas überspitzt formuliert - ein überbewerteter Mitläufer?


Can ist ein Mitläufer: Große Klappe, wenig dahinter

Emre Can hat in seinem Spiel durchaus einige Stärken, die der BVB vor seiner Verpflichtung nicht oder nur in überschaubarem Maße im Repertoire hatte. Der 27-Jährige ist in der Regel zweikampfstark und ein Kampfschwein - im in den letzten Jahren häufig phlegmatischen Spiel der Dortmunder war und ist Can definitiv ein Spieler, der in dieser Hinsicht heraussticht.

Aber - und das ist sehr wichtig zu betonen - es reicht nunmal nicht, seinen Körper in den Gegner reinzurammeln, seine Mitspieler anzubölken und damit "aufwecken" zu wollen und vor den TV-Kameras knackige Sprüche rauszuhauen, um sich beim BVB das Prädikat "Leistungsträger" auf die Fahne schreiben zu dürfen.

Denn neben seinen erwähnten Vorzügen hat der Defensivallrounder derart viele Schwächen in seinem Spiel, dass er im Großen und Ganzen schlichtweg keine Verstärkung für die Mannschaft darstellt. Es ist schon hanebüchen, wie häufig Can sich den Ball schnappt und mit dem Kopf durch die Wand will - etliche Ballverluste, wie jüngst auch gegen Man City, sind die Folge. Der 27-Jährige überschätzt sich und seine Fähigkeiten in schöner Regelmäßigkeit und meint, dass er mit spektakulären Dribblings aus der Abwehr heraus für Glanzmomente sorgen müsste. Doch dafür hat der BVB genügend andere Spieler, die das wesentlich besser können. Also sollte er ihnen das auch überlassen.

Dass er nach der Frankfurt-Pleite tönt, er habe "keinen Bock auf die Europa League", nur um gegen City wie ein Nachwuchsspieler das 0:1 zu verschulden, zeigt, wie weit die Selbsteinschätzung von der Realität entfernt liegt.

Natürlich ist es verständlich, dass viele BVB-Fans Can aufgrund seiner emotionalen Ausbrüche so lieben, gerade im Ruhrpott wird diese Malocher-Qualität noch einmal besonders geschätzt. Man sollte aber nicht vergessen, dass man auch ein wenig Spielverständnis mitbringen muss, um auf dem höchsten Level - auf dem sich die Borussia nun einmal sieht - mithalten zu können. Und genau dieses Spielverständnis geht Can häufig ab. Viele, viele (Stellungs-)Fehler und Ballverluste sind die Folge. Und da bringt es auch nichts, die emotionale Sau rauszulassen und sich für eine Grätsche feiern zu lassen. Denn mit dem nächsten Pass ist der Ballverlust schon fast vorprogrammiert.

Als Fußballspieler ist Can Durchschnitt und mit Sicherheit kein Führungsspieler. Da kann er noch so groß den Mund aufreißen. Er sollte lieber mal seine Taten für sich sprechen lassen.

(Jan Kupitz)


Can ist für den BVB unverzichtbar: Große Klappe, viel dahinter!

Ja, Emre Can hat keine Lust auf die Europa League und das nach dem Spiel gegen Eintracht Frankfurt auch deutlich kommuniziert. Und ja, es war Emre Can, der das 1:0 für Manchester City im Viertelfinale der Champions League verschuldete. Der darauf folgende Spott wandelte sich schnell in eine Generalkritik und in die Frage, ob der deutsche Nationalspieler der Borussia wirklich weiterhilft.

Um zu verstehen, wie wichtig Can aber tatsächlich für den BVB ist, muss man verstehen, was der Mannschaft in den letzten Jahren fehlte. Und obgleich das M-Wort in Dortmund eine gewisse Konnotation hat und besser nicht ausgesprochen wird, bringt Can genau diese Qualität mit: die Mannschaft zu führen, zu pushen und verbal wie physisch auch mal dahin zu gehen, wo es wehtut - allerdings immer fair. Ein moderner Gattuso, sozusagen.

Darüber hinaus erweitert Can das Mittelfeld um eine weitere Dimension. Spielgestaltende und feinfüßige Mittelfeld-Dirigenten hat der BVB zuhauf. In den Spielen, in denen die Mentalität gefragt ist, schauen Axel Witsel, Mo Dahoud, Julian Brandt und Co. aber zuhauf in die Röhre. An der Seite von Thomas Delaney ist es vor allem Can, der sich diesem Trend entgegenstellen kann. Auch wenn nicht immer alles Milch und Honig ist, was der 27-Jährige spielt: er ist der Anpeitscher, der Vorantreiber, der sich für die Meter zerreißt, die seine Mitspieler nicht gehen können oder wollen.

Dass Emre Can gewissen Qualitäten darüber hinaus im BVB-Trikot seit einiger Zeit vermissen lässt, ist der Personalsituation geschuldet. Durch die Verletzungsanfälligkeit von Dan-Axel Zagadou und die fehlenden Leistungsspieler auf den Außenverteidigerpositionen, muss Can hinten aushelfen; nur in einem Drittel der Saisonspiele 2020/21 durfte der Nationalspieler im Mittelfeld ran. Generell ist Can einer der flexibelsten Spieler der Mannschaft: der 27-Jährige kam schon als rechter Innenverteidiger in einer Dreierkette, als Innenverteidiger, als alleiniger und gepaarter defensiver Mittelfeldspieler und sogar noch offensiver zum Einsatz. Can bekommt also überhaupt nicht die Chance, sich über mehrere Spiele auf einer Position zu etablieren.

Zudem herrscht beim BVB das Leistungsprinzip. Während Can mit seiner Form zu kämpfen hat (so geht es fast allen Schwarz-Gelben in dieser Saison), liefern Mo Dahoud, Thomas Delaney und Jude Bellingham seit einigen Wochen ab. Natürlich will Can, als Spieler der vorangehen möchte, zeigen, wie wichtig er ist. Das bedingt eine durchaus riskante Spielweise, die aktuell mehr Fehler als Erfolge erzielt. Doch sicher kann man sich bei Can sein: seine Nase ist die erste, an die er sich packt.

Emre Can ist für den BVB aufgrund seiner Mentalität unverzichtbar. Der Nationalspieler hat ein unglaubliches Mind-Set, das in einer funktionierenden Mannschaft einfach nicht fehlen darf. Sei es ein Gennaro Gattuso, oder ein Thomas Müller: Führungsspieler zeichnen sich seit jeher durch ihre Mentalität aus. Ein Formloch, wie das, in dem Emre Can aktuell steckt, gehört mal dazu. Das darf jedoch nicht dazu führen, gleich den Stab über Führungsspieler zu brechen.

Der BVB spielt eine verkorkste Saison - es gibt keinen Schwarz-Gelben, der sich aktuell nicht wünscht, dass die Spielzeit endlich vorbei ist. Und danach, da bin ich mir sicher, werden wir wieder viel Spaß an Emre Can und Borussia Dortmund haben.

(Oscar Nolte)