Panikstimmung beim HSV? Einfach mal Geduld walten lassen...

Martin Rose/GettyImages
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Die letzten beiden Auftritte des Hamburger SV lassen bei vielen Fans des Klubs die Alarmglocken schrillen. Zu sehr erinnerten die Spiele in Aue (1:1) und gegen Fortuna Düsseldorf (1:1) an vergleichbare Minus-Leistungen in der Vergangenheit.

Doch während in den zurückliegenden drei Jahren regelmäßig eine katastrophale Rückrunde dafür sorgte, dass der HSV sein Ziel von der Rückkehr in die Bundesliga begraben musste, herrscht jetzt bereits nach zehn Spieltagen maximale Alarmstimmung. Zurecht?

Die Bild-Zeitung schreibt bereits - wenn auch mit einem Fragezeichen versehen - vom Scheitern, vor dem der HSV im November 2021 stehe. Das ist natürlich nach einem knappen Drittel der Saison etwas voreilig. Stützen tut sich das Boulevard-Blatt dabei auf die für jedermann offensichtlichen statistischen Daten.

Klar, wenn du von zehn Spielen nur drei gewinnen kannst, hast du erstmal nicht allzu viele Argumente auf deiner Seite. Zumindest wenn du aufsteigen willst. Und das will man beim HSV, Etatsenkung hin oder her, natürlich weiterhin.

Andererseits hält sich die Anzahl von Niederlagen (eine) durchaus noch in einem akzeptablen Rahmen. In den Spielzeiten 2018/19 (zwei) und 2020/21 (drei) waren es zum selben Zeitpunkt jedenfalls mehr.

Durchwachsene Bilanz was Neuzugänge betrifft

Des Weiteren führt die Bild-Zeitung die eher ernüchternde Bilanz bezüglich der Neuzugänge an. Neun neue Spieler hat der HSV geholt. In die erste Elf haben es mit Sebastian Schonlau, Jonas Meffert und Robert Glatzel tatsächlich nur drei geschafft. Ludovit Reis schwankt noch zwischen Bank und erster Elf.

Sebastian Schonlau, Jonas Meffert
Schonlau (li, wurde direkt zum Kapitän) und Meffert erweisen sich bislang als gute Transfers / Lars Baron/GettyImages

Miro Muheim, Tommy Doyle, Mario Vuskovic und Mikkel Kaufmann wiederum kamen bislang nicht über den Status reiner Ergänzungsspieler hinaus. Wobei sowohl Vuskovic als auch Doyle in ihren bisherigen Kurzeinsätzen angedeutet haben, sich mittelfristig ebenfalls in die erste Elf spielen zu können.

Separat muss man Ersatzkeeper Marko Johansson bewerten, der bekanntlich nicht als neue Nummer eins geholt wurde und sich im Schatten von Daniel Heuer Fernandes entwickeln soll. Zur Zeit fällt der Schwede verletzungsbedingt (Oberschenkelprellung) sowieso aus.

Das Kapitel Neuzugänge muss man insofern - Stand jetzt - mit der Schulnote vier (ausreichend) bewerten, weshalb sich die sportliche Führung um Sportvorstand Jonas Boldt und Sportdirektor Michael Mutzel tatsächlich fragen lassen muss, ob sie - trotz der fehlenden finanziellen Mittel - hier wirklich das Bestmögliche herausgeholt hat.

Andere Klubs in der Liga haben - Stand jetzt - bewiesen, unter ähnlichen (oder noch schlechteren) Voraussetzungen bessere Sofortlösungen für ihre Probleme gefunden zu haben. Und dabei schiele ich nicht nur zum Stadtrivalen...

Kein Grund, jetzt schon in Panik zu verfallen

Doch ist mir der lapidare Verweis darauf, dass das personelle Niveau insgesamt zu niedrig sei, um aufzusteigen, schlichtweg zu schwammig - und vor allem: verfrüht. Wir haben gerade ein knappes Drittel der Saison absolviert.

Denn bei aller Offensichtlichkeit (die Tabelle lügt nicht!), dass die Mannschaft noch ein ganzes Stück von der Spitzengruppe entfernt ist (aktuell sind es sieben Punkte auf den Tabellenführer St. Pauli), gibt es eben auch Anzeichen einer Verbesserung gegenüber den Vorjahren.

So ist der spielerische Vortrag der Mannschaft insgesamt ansehnlicher geworden. Zwar noch ohne den entsprechenden Ertrag, aber der wird kommen, wenn man Ruhe und Geduld walten lässt.

Mit Robert Glatzel hat der HSV einen treffsicheren Torjäger verpflichtet, der leider das Pech hat, permanent mit einem in anderen Sphären liegenden Simon Terodde verglichen zu werden.

Robert Glatzel
Erfüllt bislang voll die Erwartungen: Robert Glatzel / Martin Rose/GettyImages

Auch meine ich einen Wandel in der Mentalität der Mannschaft ausgemacht zu haben. Bis zum Schluss versucht die Truppe in jedem Spiel alles. Weggeschenkt wurde bislang kein einziges Spiel. Das scheint ein Verdienst von Tim Walter zu sein.

Womit wir beim Trainer wären. Ganz ehrlich: Nach den ersten Interviews, die ich von ihm sah, war ich ob seiner geringeren dialektischen Fähigkeiten im Vergleich zu seinen Vorgängern erstmal skeptisch.

Doch auch wenn er nicht so geschliffen daherredet wie sein unmittelbarer Vorgänger Daniel Thioune oder auch keine so erfolgreiche Trainer-Vita wie Thiounes Vorgänger Dieter Hecking vorweisen kann, scheint er das Team mit seiner direkten, unverfälschten Art hinter sich gebracht zu haben.

Tim Walter
Das Team scheint ihm zu folgen: HSV-Coach Tim Walter / Cathrin Mueller/GettyImages

Spiele, in denen ein klarer Mangel an Willen erkennbar war, ein Spiel notfalls auch mit der Brechstange rumzureißen, habe ich - mit Ausnahme des Aue-Spiels (trotz des glücklichen späten Ausgleichs) und phasenweise zuletzt gegen die Fortuna - noch keine gesehen. Das war in den vergangenen Jahren auch nicht immer so...

Ja, vielleicht muss ich mir am Ende dieser Saison diesen Artikel vor die Nase halten lassen und mir sagen lassen, dass ich Schönfärberei betrieben habe. Aber ich kann nun mal nicht aus meiner Haut. Man ist entweder Optimist - oder man ist es nicht. Ich bin es. Und das ist für mich auch weiterhin vereinbar mit meiner Kondition als HSV-Fan. Trotz aller Nackenschläge in der Vergangenheit.

Wo ist die Geduld geblieben?

Denn nochmal: Aufgestiegen ist nach zehn Spieltagen bislang noch keine Mannschaft. Der HSV (leider, leider) schon mal gar nicht. Wo also, frage ich mich, ist die von so vielen Fans vor der Saison eingeforderte Geduld geblieben?

Reichen insgesamt 36 Spielminuten, um einem Miro Muheim bereits jetzt das Etikett des "Fehleinkaufes" zu verpassen? Oder die noch geringeren Einsatzzeiten eines Mario Vuskovic, eines Tommy Doyle oder eines Mikkel Kaufmann?

Natürlich kann man alles in Grund und Boden reden. Kann auf die Tabelle verweisen oder auf die Bilanz, in der nur drei Siege stehen. Kann das System des Walter-Balls in toto in Frage stellen.

Wobei: Ich glaube nicht, dass ein Walter seinen Spielern dazu geraten rat, dem schnellen Khaled Narey möglichst viel Platz zu lassen. Wie jüngst geschehen. Um nur mal einen (aber entscheidenden) Aspekt des letzten Spiels herauszupicken.

Dass der frühere HSVer einen so guten Auftritt (übrigens nicht der erste, seit er das Fortuna-Trikot überzieht) an alter Wirkungsstätte hingelegt hat, war natürlich Fehlern der HSV-Spieler (in puncto Staffelung und Raumaufteilung) geschuldet. Aber muss man deswegen das ganze System in Frage stellen?

Sicherlich nicht. Was wiederum Walter keinesfalls davon befreit, die Ursachen für diese Fehler zu erkennen und zu beheben. Womit wir wieder bei der Geduld wären. Geben wir sie ihm und seinem Team doch einfach.

Ich jedenfalls habe mir als erste Benchmark die komplette Vorrunde gesetzt. Dafür sind noch sieben Spiele (gegen Paderborn, Kiel, Regensburg, Ingolstadt, Karlsruhe, Hannover und Rostock) zu absolvieren.

Natürlich ist Fußball ein Ergebnissport. Alle noch so guten Ansätze im spielerischen Bereich und was den Einsatz der Spieler betrifft sind am Ende für die Katz, wenn du drei oder viermal hintereinander verlierst.

Aber das hat der HSV bislang nicht getan. Er hat ein (zugegebenermaßen schlechtes) Spiel bei St. Pauli verloren und in Aue über weite Strecken einen Rückfall in alte lethargische und uninspirierte Zeiten erlebt. Aber auch dort noch wenigstens einen Punkt ergattert.

Hinzu hat er auch erst ein Heimspiel gewonnen. Aber in keinem der Spiele hat er den Eindruck vermittelt, das Spiel vorzeitig aufgegeben zu haben.

Und mit einem spielerisch ansehnlicheren Vortrag als in der Vergangenheit sowie der Treffsicherheit eines Robert Glatzel gibt es auch durchaus ein paar Hoffnungsschimmer.

Prognose: HSV holt noch 15 Punkte in der Vorrunde - und bricht in der Rückrunde mal nicht ein

Wenn das Team aus den verbleibenden sieben Spielen der Vorrunde durchaus mögliche 15 Punkte holt, hätte er nach der Hinrunde insgesamt 30 Zähler. Das wären sieben weniger als in der Spielzeit 2018/19, genauso viele wie unter Hecking (19/20 ) und sechs weniger als unter Thioune im Vorjahr.

Sollte es dem Team dann zusätzlich gelingen, in der Rückrunde nicht so einzubrechen, wie in den letzten drei Jahren, stünde zumindest einer Teilnahme am Aufstiegskampf im nächsten Jahr nichts entgegen.

Lange Rede, kurzer Sinn: Für mich befindet sich der HSV im Herbst 2021 weiterhin im Grünen Bereich. Und diese Geduld werde ich zumindest bis zum Ende der Hinrunde nicht verlieren.