Heute vor 30 Jahren: Bobans Tritt als Fanal der jugoslawischen Katastrophe
Von Guido Müller

Es gibt Fußball-Spiele, die über ihre rein sportliche Dimension hinaus Zeitgeschichte geschrieben haben. Das erste Länderspiel der deutschen Nationalmannschaft nach dem Zweiten Weltkrieg (die Schweiz war bereit, uns als Gegner zu empfangen!) ist so eines. Oder jenes Spiel, das nie angepfiffen wurde - und dennoch den Startschuss für einen grausamen Bürgerkrieg gab.
Es sollte heute auf den Tag genau vor 30 Jahren im Maksimir-Stadion zu Zagreb (Heimstatt von Dinamo Zagreb) stattfinden. Gegner: der verhasste Rivale von Roter Stern Belgrad aus der ungeliebten Hauptstadt des Landes. Doch im Land gärte es schon seit einiger Zeit. Die über Jahrzehnte unter diktatorischem Deckel gehaltenen Konflikte zwischen den verschiedenen Ethnien des Landes (muslimische Bosnier, orthodoxe Serben, katholische Kroaten) ließen sich nicht mehr bändigen.
Schon beim Aufwärmen der beiden Mannschaften gab es auf den Tribünen jede Menge Krawall. Die Ultras der Kroaten aus Zagreb ("Bad Blue Boys") lieferten sich mit den "Delije" aus Belgrad erbitterte Kämpfe. Fäuste flogen - und Steine. Jede Menge Steine. Und zwischen den Fronten: die zahlenmäßig hoffnungslos unterlegene Polizei, die nach eigenen Angaben einfach nicht in der Lage war, die Lager voneinander zu trennen. Kroatische Stimmen hingegen verwiesen später mehr auf ein mangelndes Interesse der Ordnungshüter.
Ein Tritt wie ein böses Omen
Und so kam es, wie es kommen musste: die Situation eskalierte beinahe im Minutentakt. Eine knappe halbe Stunde vor dem geplanten Spielbeginn durchbrachen Zagreb-Anhänger die Absperrungen und strömten in den Innenraum. Ihr Ziel: die Kurve der Belgrader Fans. Die hatten zuvor den Gästeblock zerlegt. Die Polizei, größenteils aus Serben bestehend, stand zwischen den Fronten. Und die Spieler? Die gerieten angesichts immer weiterer Hooligans, die auf das Spielfeld liefen, natürlich in Panik und versuchten, sich in die Kabinen zu retten. Wie auch Zvonimir Boban. Der Star von Dinamo-Zagreb wurde jedoch auf dem Rasen Augenzeuge eines Angriffs eines der Ordnungshüter auf einen seiner Mitspieler - und reagierte beinahe instinktiv: mit einem etwas unorthodoxen Kung-Fu-Tritt, Knie voran, sprang der Mittelfeldspieler in den Brustkorb des Beamten - und floh dann vor der zu erwartenden Reaktion.
Damit machte sich Boban die Teilnahme an der wenige Wochen später anstehenden Fußball-Weltmeisterschaft in Italien zunichte. Denn er wurde daraufhin vom jugoslawischen Verband für acht Monate gesperrt. In Kroatien wird Boban jedoch bis heute als eine Art Nationalheld geehrt. Der heute 52-jährige würde alles noch mal so machen: "Ich würde es wieder tun. Ich war einer von vielen Tausend, die das gleiche dachten. Wir lebten in der Hölle und sehnten uns nach Freiheit." (Quelle: kicker.de)
Doch die Hölle von der Boban sprach, sollte erst später in ihrer ganzen zerstörerischen Wucht über das Land und über zigtausende von Opfern auf allen Seiten hereinbrechen. Und somit kann man der 2011 vom US-Sender CNN gegebenen Einschätzung jenes Spiels als "eines, das die Welt veränderte" nur recht geben.