Box-Besetzung, Kontersicherung & Asymmetrie: Julian Nagelsmann erklärt seine Spielidee
Von Simon Zimmermann
Julian Nagelsmann und Ralf Rangnick gemeinsam vor einer Taktiktafel? Das kann nur hochinteressant werden! So geschehen im neuen DAZN-Format 'Decoded'.
Rangnick zeigt Unverständnis für Nagelsmann-Verkauf
Bevor es in taktische Feinheiten der Nagelsmann-Offensividee ging, wurde aber noch dessen Wechsel zum FC Bayern im Sommer besprochen. Der Rekordmeister legte dem Vernehmen nach eine Trainer-Rekordablöse von 25 Millionen Euro auf den Tisch. Ralf Rangnick, ehemaliger Macher von RB Leipzig, konnte das aus Sicht seines Ex-Klubs überhaupt nicht nachvollziehen:
"Wir haben Julian damals geholt, weil wir überzeugt waren, er hebt uns auf die nächste Stufe. Dann kommt der größte Konkurrent in Deutschland in Not, was die Trainerfrage betrifft, und man lässt ihn für Geld ziehen. Dabei ist Geld - das unterstelle ich mal - angesichts der Verkäufe von Upamecano, Konaté oder Sabitzer das, was RB am wenigsten gebraucht hätte. Ich hätte ganz sicher nicht zugestimmt und dem FC Bayern auch noch aus der Patsche geholfen", machte Rangnick deutlich.
Zuvor hatte Nagelsmann erklärt, dass er selbst etwas überrascht war über die Bereitschaft des Vize-Meisters ihn zwei Jahre vor Vertragsende ziehen zu lassen: "Das erste Gespräch mit Oliver Mintzlaff verlief offen und total anders, als ich es erwartet habe. Da wurde ein Wechsel nicht kategorisch ausgeschlossen. Auf die Tränendrüse habe ich garantiert nicht gedrückt und ich wäre nicht böse gewesen, wenn ich in Leipzig hätte bleiben sollen."
Heißt: Nagelsmann wollte zwar zum FC Bayern (sein Lebenstraum). Er hätte sich dem Willen von RBL aber gefügt, wenn ein Wechsel von Beginn an kategorisch ausgeschlossen worden wäre.
Nagelsmann erklärt seine Offensiv-Strategie
Bekanntlich kam es aber ganz anders. Die Gespräche zwischen Bayern und RB nahmen schnell Fahrt auf, Nagelsmann unterschrieb für fünf Jahre beim Rekordmeister und soll bei seinem Traum-Klub eine Ära prägen.
Zum Saisonstart wurde schnell deutlich, dass der 34-Jährige auf das Fundament von Hansi Flick aufbauen möchte. Auch aufgrund der kurzen und zerstückelten Vorbereitung will Nagelsmann seine Handschrift und taktischen Ideen erst Stück für Stück umsetzen.
Eine gravierende Änderung - oder besser: ein Update zur letzten Saison - ist aber schon jetzt zu sehen. Die Bayern sind deutlich weniger anfällig bei Kontern. Hat man in der vergangenen Spielzeit unter Flick noch die zweitmeisten Gegentore nach Kontern gefangen (nur Schalke kassierte mehr), wirkt die Defensive nun deutlich stabiler.
Offensivspiel wirkt sich auf Konterabsicherung aus
Das liegt vor allem an der besseren Konterabsicherung und der sogenannten Restverteidigung. Und das wiederum ist eine direkte Folge von der Positionierung im Offensivspiel. Nagelsmann hat hier seine Vorstellung bereits umgesetzt - wie er bei 'Decoded' erklärte.
Der FCB-Coach hat andere Vorstellungen vom Verhalten seiner Außenverteidiger in der Viererkette als die meisten anderen Trainer. Häufig sollen Links- und Rechtsverteidiger so breit wie möglich stehen und eine flache Kette mit den Innenverteidigern bilden, um so das gegnerische Mittelfeld auseinanderzuzuiehen.
Nagelsmann geht ein wenig den umgekehrten Weg. Er wolle, dass das gegnerische Mittelfeld im Zentrum gebunden ist, um so die Räume drumherum bespielen zu können. Dabei setzt er auf eine Asymmetrie im Offensivspiel. Aktuell sieht das bei den Bayern so aus, dass Linksverteidiger Alphonso Davies die Breite hält und extrem nach oben schiebt - Davies wird so zum Linksaußen.
Auf der anderen Seite soll der Rechtsverteidiger (meist Pavard) nicht an der Linie bleiben, sondern ins Zentrum rücken. Dadurch wird er zum dritten Sechser, die Außenbahn wird frei. Für das Außenstürmer-Pärchen (meist Gnabry und Sané) hat das ebenfalls große Auswirkungen. Während Gnabry quasi das Pendant an der Linie zu Davies gibt, soll Sané in die Halbräume kommen und neben Thomas Müller den zweiten Zehner geben.
Bayern profitieren von guter Box-Besetzung
Die Effekte dieser Strategie sind vielfältig. In letzter Linie, kann der FCB so leicht eine sehr gute Besetzung des gegnerischen Strafraums erzielen - weil sich schlicht schon viele Spieler in der Nähe der "Box" aufhalten. Erkennbar war das etwa bei Lewandowskis Treffer gegen Barça, als er einen Abpraller vom Pfosten abstaubte.
Ein Tor, das zwar etwas zufällig wirkte. Dieser "Zufall" wird aber durch die hohe Anzahl der Bayern-Spieler vor dem Tor erzwungen. Die Wahrscheinlichkeit, zweite Bälle zu bekommen, ist einfach deutlich höher, je mehr Spieler in der Nähe sind.
Einen weiteren Effekt ergibt sich durch die gute Box-Besetzung auf das Gegenpressing. Zum einen werden so schon extrem viele Spieler des Gegners gebunden. Zum Konter bleiben dann nur noch wenige Spieler überhaupt übrig. Zum anderen fällt der Zugriff nach Ballverlust leichter, weil die Zuordnungen klar sind und die Gegner in unmittelbarer Nähe.
Das Zentrum ist bei Ballverlust dicht
Beim Spielaufbau sind die Bayern dazu deutlich kompakter als zuvor. Unter Flick schoben noch beide Außenverteidiger extrem hoch und breit. Auch im Mittelfeld waren die Spieler weit auseinandergezogen, um Räume zu schaffen. Bei Ballverlust war die Gefahr eines erfolgreichen Konters dabei aber extrem groß.
Unter Nagelsmann fällt diese nicht so gravierend aus. Das Zentrum ist durch die beiden nominellen Sechser plus den einrückenden Rechtsverteidiger dicht besetzt. Bei Ballverlust können die Bayern so deutlich einfacher schließen und das eigene Tor verteidigen.
Natürlich wird Nagelsmann in der Sendung nicht alle seine Kniffe verraten haben. Seine Erklärungen zu den einzelnen Positionierungen lieferten aber schon einen sehr guten und äußerst spannenden Eindruck, wohin die Reise beim FC Bayern gehen kann - und wie minutiös Nagelsmann seinen Matchplan verfolgt.
Eines ist jedenfalls sicher: In den kommenden Wochen, Monaten und Jahren werden wir noch den ein oder anderen taktischen Kniff des 34-Jährigen zu sehen bekommen.