Das Phänomen Zlatan Ibrahimovic

Zlatan Ibrahimovic dreht zum Torjubel ab
Zlatan Ibrahimovic dreht zum Torjubel ab / Francesco Pecoraro/Getty Images
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Die einen lieben ihn, andere können ihn nicht ausstehen. Zlatan Ibrahimovic polarisiert selbst mit seinen inzwischen 39 Jahren. Der Schwede ist nicht allein wegen seines prominenten und werbewirksamen Namens im Kader des AC Mailand – im Gegenteil. Als Anführer, Gewinnertyp und bester Torschütze der laufenden Saison ist sein Wert für die Rossoneri unschätzbar.

Als Zlatan Ibrahimovic 1999 seinen ersten Profivertrag bei Malmö FF unterschrieb, war sein jetziger Stürmerkollege Lorenzo Colombo (*2002) beim AC Mailand noch nicht einmal geboren. Auch Daniel Maldini (*2001), Sohn des großen Paolo, hatte noch nicht das Licht der Welt erblickt. Im Trikot von Juventus Turin (2004-2006) und Inter Mailand (2006-2009) spielte Ibrahimovic sogar gegen Paolo Maldini, der 2009 im Alter von 40 Jahren und elf Monaten seine Karriere beendete.

Gegenüber BBC Sport sagte Ibrahimovic kürzlich scherzhaft: "Ich spielte gegen Paolo Maldini und jetzt spiele ich mit seinem Sohn Daniel. Hoffentlich kann ich auch noch mit Daniels Sohn spielen, das wäre ein Wunder."

Wieder bei Milan

Von 2010 bis 2012 spielte Ibrahimovic bereits beim AC Mailand, dem er sich im Januar 2020 erneut anschloss. Als der Traditionsklub 2011 die Meisterschaft gewann, befanden sich unter seinen feiernden Mitspielern auch welche, die längst ihre Fußballschuhe ins Regal gestellt und mittlerweile einen Perspektivwechsel vollzogen haben.

Andrea Pirlo trainiert seit neuestem Juventus Turin, Gennaro Gattuso hat bereits eineinhalb Jahre den AC Mailand geleitet und ist seit Dezember 2019 Trainer des SSC Neapel. Ibrahimovics damaliger Sturmpartner Filippo Inzaghi hat Benevento Calcio im Sommer in die erste italienische Liga geführt. Ibrahimovic absolviert derweil seine 22. Profisaison, solch eine Langlebigkeit ist selten im modernen Fußball.

Wo auch immer Ibrahimovic aufschlug, hatte er Erfolg. Drei Mal war er Torschützenkönig im Trikot von Paris Saint-Germain in der französischen Ligue 1, zweimal war er treffsicherster Akteur in der italienischen Serie A. Fast an einer Hand abzählen kann man die Jahre, in denen er nicht Schwedens Fußballer des Jahres in diesem Jahrtausend wurde. Insgesamt konnte er diese Auszeichnung zwölfmal einstreichen. Zusätzlich zu den oben genannten Stationen spielte er für Ajax Amsterdam, Manchester United und vor seinem zweiten Engagement für den AC Mailand war er für Los Angeles Galaxy aktiv.

Einzig beim FC Barcelona in der Saison 2009/2010 unter Trainer Pep Guardiola schien Ibrahimovic keine Jubelstürme auszulösen. Zwischen dem Analytiker Guardiola und dem impulsiven Ibrahimovic herrschte Zwietracht. Wenngleich Ibrahimovic 22 Tore und 12 Vorlagen für Barcelona verzeichnen konnte, war das Experiment nach nur zwölf Monaten beendet. Auch aus taktischen Gründen war Guardiola froh, als Ibrahimovic die Katalanen verließ, denn der Erfolg von Lionel Messi brachte es mit sich, dass die Rolle eines klassischen Stoßstürmers, wie Ibrahimovic sie verkörperte, immer weniger gefragt war.

Pep und Zlatan verstanden sich nicht
Pep und Zlatan verstanden sich nicht / LLUIS GENE/Getty Images

"Wer mich kauft, kauft einen Ferrari. Wer einen Ferrari hat, tankt Super, fährt auf die Autobahn und gibt Vollgas. Guardiola hat Diesel getankt und eine Tour ins Grüne gemacht. Hätte er sich gleich einen Fiat kaufen sollen." Eigentlich müsste man gar nicht erwähnen, dass dieses Zitat von Ibrahimovic stammt. Sein markanter und scharfzüngiger Stil mit einer Prise Sarkasmus hat Wiedererkennungswert. Er eckt an, stellt Verhaltensnormen infrage, fordert die Grenzen des Sagbaren heraus – und packt schonmal die verbale Blutgrätsche gegenüber Trainern und Spielern aus.

Einer der letzten Mohikaner

Während die meisten Sportler sich mit Sorge um ihren Ruf vor Tabubrüchen scheuen, nimmt der Schwede seine Aussagen und Handlungen nie als Fauxpas wahr, sondern als Zeichen seines Durchsetzungsvermögens, seiner Andersartigkeit. In einer Branche, die nach Unikaten und draufgängerischen, kantigen Kerlen lechzt, die stattdessen aber Phrasen, Worthülsen und Einheitsbrei hervorbringt, bleibt Ibrahimovic einer der letzten Mohikaner. Sein langes zum Zopf gebundenes Haar und seine unzähligen Tattoos als Kriegsbemalung passen dazu. Mit seinen 195 Zentimetern und dank seines robusten Oberkörpers mutet er auch äußerlich wie ein Krieger an.

Ibrahimovic wandelt stets auf einem schmalen Grat zwischen Selbstbewusstsein und Arroganz, zwischen Dominanz und Großspurigkeit, zwischen Führungsqualität und Narzissmus. Manchmal hat es den Eindruck, als ob die Medien inständig auf ein kontroverses Zitat von Ibrahimovic warten, wie ein Wolfsrudel im Zoo, das nach einem Brocken Fleisch giert. Dieser Metapher entsprechend wäre Ibrahimovic der Tierpfleger, der nur bei Lust und Laune seine Schützlinge versorgt. Er selbst würde jedoch sicherlich widersprechen und sich als Tiergartendirektor betrachten, um im Bild zu bleiben.

Inwiefern der 39-Jährige mit den Medien spielt oder ob seine Aussagen Ausdruck seiner wahren Persönlichkeit sind, kann wohl nur er selbst beurteilen. Jedenfalls setzt er immer die letzte Pointe, auch wenn es jemand wagt, ihn mit beißendem Spott zu provozieren.

An ihm scheiden sich die Fraktionen. Er polarisiert und erregt Wiederspruch. Manche Fußballfans verehren ihn, andere finden seine selbstgefällige Art unerträglich. Auf dem Fußballplatz hingegen geht Ibrahimovic mit Leistung voran. Das muss er auch, um seine Außendarstellung zu rechtfertigen. Wenn sich jemand eine Sonderrolle herausnehmen kann, dann er als Schlüsselspieler. Er gibt den Ton an und wartet nicht bis andere das Kommando übernehmen. Ihm war und ist es gleichgültig, wie andere ihn beurteilen.

"Du musst wissen, wie du mit ihm umgehen musst. Wirklich, alles was du zu tun hattest, war es, ihm den Ball zuzupassen, sonst schrie er dich an oder spielte dir im Nachhinein Streiche", sagte einst der damals 19-jährige Stephen El Shaarawy über Ibrahimovic. Andererseits hat ihm sein Auftreten auch viele Bewunderer eingebracht.

Seine Autobiographie 'Ich bin Zlatan' wurde mehr als eine Million Mal in Schweden verkauft. Vor allem unter den Menschen mit Migrationshintergrund, die Schwierigkeiten haben, sich mit Schweden zu identifizieren, fand es großen Anklang. Sein Vater stammt aus Bosnien, seine Mutter ist Kroatin. Er wuchs im verarmten Malmöer Vorort Rosengard auf.

Als Sohn eines Hausmeisters und einer Putzfrau war der Lebensweg des gebürtigen Schweden alles andere als vorgezeichnet. Sein Erfolg hat ein anderes Schlaglicht auf Rosengard geworfen, das mit Kriminalität und sozialen Problemen umgehen muss. Ibrahimovic hat vielen Menschen auch im übrigen Schweden, vielleicht auch unbewusst, unerschütterliches Selbstbewusstsein und die Hartnäckigkeit vermittelt, wie man seine Ziele verfolgen kann.

Torgarant und Mentalitätsmotor

Ibrahimovic ist nicht nur in Sachen Kommunikation eine Naturgewalt, sondern auch auf dem Platz. In dieser Saison hat er bereits zehn Treffer in nur sechs (!) Serie A-Einsätzen erzielt. Eine Coronavirus-Infektion zwang ihn zu einer zweiwöchigen Pause, Ende November zog er sich eine Muskelverletzung zu. Seitdem fehlt er seinem Team nicht nur als Torjäger, sondern auch als Leader, der die Mentalität des ganzen Kollektivs auf ein deutlich höheres Level hebt.

Vereinzelt ist seine technische Finesse auf engem Raum und die Cleverness früherer Jahre noch sichtbar. Trotz seiner Größe ist er immer noch wendig, eine Gazelle im Gewande eines Bisons. Sein Abschluss, Raumgefühl und seine Kaltschnäuzigkeit sind ohnehin so gut wie eh und je. Sein Spitzname Ibrakadabra kommt nicht von ungefähr. Zlatan, der Zauberfuß.

Insgesamt traf er in seiner Profikarriere 494 Mal in 808 Pflichtspielen, für die schwedische Nationalmannschaft netzte er 62 Mal in 116 Partien ein. Manche Tore waren wahre Kunstwerke, wie sein Fallrückzieher aus 25 Metern gegen England 2012 oder sein Seitwärts-Kung-Fu-Treffer gegen Olympique Marseille im selben Jahr.

Im Trikot von Los Angeles Galaxy gelang ihm 2018 ein Treffer, der aufgrund seiner Außergewöhnlichkeit kaum in Worten wiedergegeben werden kann: Ibrahimovic erwartete ein halbhohes Zuspiel zunächst mit dem Rücken zum gegnerischen Tor. In der Luft drehte er sich elegant um 180 Grad und verlängerte den Ball mit der rechten Außenseite ins Tor von Toronto FC. Zurück blieb der verdutzte Torhüter Alex Bono, der zugab so einen Treffer noch nie kassiert zu haben. Selbst die Fans des Gastgebers aus Toronto erhoben sich von ihren Plätzen und beklatschten die Extraklasse des Ausnahmetalents.

"Ich weiß nicht viel über die Spieler der Ligue 1 – aber sie kennen mich", sagte Ibrahimovic, als er im Sommer 2012 gerade zu Paris Saint-Germain gewechselt war. Ein Seitenhieb gegen seine künftigen Mitspieler und Gegenspieler, wobei er gleichzeitig unterstrich, nur sich selbst wichtig zu nehmen. In Frankreich hinterließ er einen so gewaltigen Eindruck, dass die französische Sportzeitung L’Equipe einen Neologismus erfand: das Verb 'zlataner'. Es bedeutet "etwas mit Kraft zu dominieren". Der Rat für schwedische Sprache nahm die leicht umgewandelte Form 'zlatanera' sogar in den Wortschatz des Landes auf.

Rückkehr nach Kreuzbandriss

Als er im März 2016 mit dem Gedanken spielte, Frankreichs Hauptstadt den Rücken zu kehren, sagte er in einem TV-Interview: "Wenn sie den Eiffelturm durch meine Statue ersetzen, bleibe ich. Versprochen." Das war nicht umsetzbar, so wechselte er im Juli 2016 ablösefrei zu Manchester United. Als er sich an das Tempo und den Spielstil der Premier League gewöhnt hatte, lief er im Winter 2016/2017 zur Höchstform auf. Im April 2017 riss er sich mit fast 36 Jahren das Kreuzband des rechten Knies. Das Karriereende in Sicht? Ibrahimovic verschwendete keinen Gedanken ans Aufhören, sondern nur an die Reha.

Freddie Fu Ho-keung, der Ibrahimovic in den USA operierte, gab einen Einblick in den Körper des Superstars. "Im Gegensatz zu seinem Kreuzband waren seine Gelenke, seine Muskeln und die anderen Teile seines Knies in erstklassigem Zustand. Sie sahen aus wie bei einem 15-jährigen Jungen, nicht wie bei einem Fußballer, der sein Knie jahrelang den Strapazen körperlichen Wettkampfs ausgesetzt hatte", sagte Fu.

Herausforderungen und Ziele

Was treibt einen Sportler an, der in den besten Ligen Europas in unterschiedlichen Jahrzehnten seine außergewöhnliche Klasse unter Beweis gestellt hat? Möchte er den Profifußball so lange es geht als Showbühne benutzen? Oder ist es vielleicht der Champions-League-Titel, der ihm noch fehlt? Siebenmal scheiterte er mit seinen Klubs im Viertelfinale, mit Barcelona war für ihn im Halbfinale Endstation. Auch in dieser Saison wird er die Champions League nicht gewinnen können, da er mit den Mailändern in der Europa League teilnimmt.

Mitte Februar trifft man in der Runde der letzten 32 auf Roter Stern Belgrad. In der Serie A thront der AC Mailand überraschenderweise an der Tabellenspitze. Ibrahimovic hat gewiss einen Verdienst daran – Milan war Elfter, als Ibrahimovic am 2. Januar 2020 bei den Rot-Schwarzen unterschrieb, und landete am Saisonende noch auf Platz sechs.

Ibrahimovic ist ein erstklassiger Leader
Ibrahimovic ist ein erstklassiger Leader / MB Media/Getty Images

Im Interview mit BBC Sport erläuterte Ibrahimovic, was ihn zu einem Wechsel zum AC Mailand bewegte. "Als ich das erste Mal zu Milan gekommen bin, kämpfte der Verein um den Titel. Beim zweiten Mal war die Situation eine andere. Die Aufgabe war es, den Verein wieder an die Spitze zu führen, da wo er hingehört. Das Gefühl ist fantastisch, denn es ist eine größere Errungenschaft als zu einem Verein zu wechseln, der bereits spitze ist", sagte er.

Auch Weltfußballer ist er noch nicht geworden. Allerdings ist es als Außenstehender schwer einzuschätzen, wie wichtig ihm diese Auszeichnung ist. "Ich muss diese Trophäe nicht gewinnen um zu wissen, dass ich der Beste bin", sagte er einst. Vor allem empfindet er höchstwahrscheinlich noch viel Spaß am Sport und will dieses Gefühl so lange wie möglich auskosten. Die Disziplin und Hingabe, die es benötigt, ist er allemal bereit zu investieren.

Nach dem Mailänder Derby gegen Inter Mitte Oktober erläuterte Ibrahimovic, ein viel kompletterer Spieler als noch vor zehn Jahren zu sein. "Hätte ich heute das Fitnesslevel von damals, würde mich niemand stoppen. Allerdings: sie können mich aber auch so nicht stoppen", sagte der Stürmer, der beim 2:1-Erfolg beide Treffer beigesteuert hatte.

Wie lange spielt er noch?

Nach der vergangenen Saison hätte er allerdings beinahe seine Karriere beendet, erzählte er unlängst im Interview mit Sky Sport Italia. Bereits nach seinem Kreuzbandriss während seiner Zeit in England, hatte er mit dem Gedanken gespielt, aufzuhören. "Wer bin ich ohne Fußball? Wenn man nach 25 Jahren plötzlich damit aufhört, das ist nicht einfach", fragte sich Ibrahimovic: "Bin ich bereit? Nein, denn ich fühle mich zu gut." Sein Arbeitspapier bei Milan endet im Sommer 2021. Sollte er sich fit fühlen, ist es nicht unwahrscheinlich, dass er noch ein, zwei oder drei Jahre dranhängt.

In einem Interview mit uefa.com verriet Ibrahimovic: "Ich vergleiche mich selbst mit Benjamin Button – von Tag zu Tag werde ich jünger. Solange ich spielen kann, werde ich spielen, das kann ich versprechen. Und solange ich meine Leistung bringe, kann ich auf Top-Niveau spielen. Wenn der Tag kommt, an dem ich das nicht mehr machen kann, höre ich auf."

Zum Abschluss des Interviews gab es noch einen zlatan-typischen Lacher. Auf die Frage, wer sich schwerer zähmen ließe: Zlatan oder ein Löwe, antwortete der Routinier: "Zlatan, 100%. Einen Löwen kann man zähmen, aber Zlatan kannst du nicht zähmen. Das ist ein ganz anderes Tier."

Zuletzt brachte er auch eine Rückkehr in die schwedische Nationalmannschaft ins Gespräch, für die er zuletzt bei der Europameisterschaft 2016 aufgelaufen war. "Ja, ich vermisse die Nationalmannschaft. Das ist kein Geheimnis", sagte der Rekordschütze des Landes. Wer sie nicht vermisse, habe seine Karriere bereits beendet. Und er habe seine Karriere nicht beendet, gab Ibrahimovic gegenüber der schwedischen Zeitung Sportbladet zu Protokoll.

Sicher ist nur, dass es mit Ibrahimovic unterhaltsam bleibt. Er ist ein Phänomen – auf und neben dem Platz.